Ameisenroman
aber führte so eine Konfrontation in ein Unentschieden, beide fauchten dann einander an, ohne jedoch tätlich zu werden. Die anderen standen im Kreis um sie herum und grölten: «Schisser bleibt Schisser, da helfen keine Pillen!»
Raff war wieder in Clayville. Er machte einen Schritt auf den Kalifornier zu, der aufgestanden war, aber selbst nicht auf ihn zukam.
So funktioniert die Natur, dachte Raff. Tiere verbringen viel mehr Zeit damit, zu posieren und zu bluffen, als wirklich zu kämpfen. Sogar seine Ameisen hielten Turniere ab und bestimmten auf diese Weise die Grenzen ihres Territoriums, meist ohne dass ein Tropfen Hämolymphe – Ameisenblut – vergossen wurde.
Noch eine halbe Minute blieben sie so stehen. Die übrige Gruppe schwieg. Er hält die Stellung, dachte Raff. Er ist größer als ich, aber vielleicht ist er nicht besonders gut in Form. Das ständige Marihuana, all das Bier haben vielleicht sein Reaktionsvermögen geschwächt, und vielleicht weiß er das.
Instinktiv, den unausgesprochenen, primitiven Emotionen eines Primaten folgend, wusste Raff: Drehte er sich um und ging weg, dann würde er seinen Status unter den Gaianern verlieren, egal, worin er bestand. Und nochwichtiger war, dass er sich vor JoLane blamieren würde. Vielleicht würde sie ihm sagen, dass er gut daran getan hatte zu gehen und dass sie froh war, dass er sich nicht zur Gewalt hatte hinreißen lassen. Wirklich meinen würde sie das aber nicht.
Jetzt hörte Raff Ainesleys Stimme, der dem Zehnjährigen sagte:
Denk daran, nie klein beigeben, wenn du weißt, dass du im Recht bist.
Die Gaianer hinten im Raum standen allmählich auf, es war unklar, ob sie gehen wollten oder nach vorne kamen, und Raff hörte Geflüster. Er wusste, woran er war. Jetzt musste er Farbe bekennen. Und wenn er dafür mit einer blutigen Nase bezahlen musste. Er machte noch einen Schritt vorwärts. Die beiden waren jetzt kaum mehr als einen Meter voneinander entfernt. Raffs Arme hingen herab, aber seine Fäuste waren geballt.
Dann kam das Finale. «Du kennst dich doch einen Scheißdreck aus, oder, Kleiner?», knurrte Raff. «Lass dir mal einen klugen Rat geben. Mach so weiter wie bisher, Kleiner, und dann endest du irgendwo im Knast. Für alle anderen wird das auch das Beste sein, du lächerlicher Maulaufreißer.»
Jetzt war es an dem Kalifornier, zu staunen. Er gab nicht klein bei, aber die einzige Antwort, die er zu geben wusste, war «Fuck you», der Rettungsanker jedes Feiglings. Raff überließ ihm das letzte Wort und begnügte sich mit dem Unentschieden.
Dann schafften es die beiden, sich gleichzeitig voneinander abzuwenden, beide kopfschüttelnd über die Hirnrissigkeit des anderen. An diesem Tag gewann das Testosteron nicht die Oberhand, es kam nicht zum Gewaltausbruch, aber Raff wusste jetzt so gut, wie die reineSelbstreflexion es ihm nie hätte zeigen können, dass er keine Memme war – und der Chino-Kalifornier nicht völlig blöde.
Erst jetzt ging es Raff auf, wie absurd die Situation eigentlich gewesen war. Unter
keinen
Umständen trug
irgendjemand
im Gemeinschaftsraum des Lowell House an der Harvard University einen Faustkampf aus. Aber Raff war trotzdem froh darüber, wie die Sache ausgegangen war.
Gleich danach begleitete ein äußerst erleichterter und stolzer Raff JoLane zu ihrem Zimmer im Leverett House. Er beschloss, dass es am männlichsten war, wenn er gegenüber JoLane kein Wort über die Auseinandersetzung mit dem Kalifornier verlor und damit andeutete:
Ach, das? Das war doch gar nichts, mit so was werde ich spielend fertig.
Es verwirrte ihn aber, dass sie selbst auch nichts dazu sagte, ihm noch nicht einmal signalisierte, dass sie auf seiner Seite stand. Kein Wort von ihr auch, als sie sich zwei Tage darauf in der Cafeteria der Memorial Hall wieder trafen. Inzwischen begann Raff die Auseinandersetzung bereits zu vergessen, aber JoLanes Schweigen verwirrte ihn noch immer.
Raff kam zum nächsten Meeting der Gaia Force zwei Wochen später; er war entschlossen zu zeigen, dass er sich von der Feindseligkeit des Kaliforniers nicht einschüchtern ließ und die Freundschaft, die er mit mehreren anderen Mitgliedern geschlossen hatte, weiterführen wollte. Trotzdem sah er sich um, um seinen Feind zu lokalisieren und selbst so weit entfernt von ihm wie möglich Stellung zu beziehen. Er wollte es auf keinen Fall noch einmal zu so etwas kommen lassen. Als er den anderen ausmachte, sah er mit Entsetzen, dass er sichgerade in einem offenbar
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