Ameisenroman
verzweifelt, sich vorzustellen, wie er sich Raffs Worte vernünftig erklären sollte. Ihm fiel aber nichts ein, und so entschied er sich, im Moment nicht darauf zu bestehen. Außerdem schloss er aus Raffs knappen Worten, dass er aus seinem Neffen nicht mehr herausbekommen würde, selbst wenn er ihn direkt fragte.
Tja, entweder vertraue ich meinem Fleisch und Blut, dachte Cyrus, oder ich lasse ihn abblitzen. Er entschied sich für das Vertrauen. Vorher aber wollte er noch etwas klären.
«Okay», fuhr er fort. «In Ordnung. Im Grunde freut mich das sehr. Und für Anne und mich und natürlich für deine Eltern wäre es wunderbar, wenn du direkt hier in Mobile arbeitest. Aber bevor ich etwas unternehme, bevor ich auch nur daran
denke
, auf Drake Sunderlandzuzugehen, möchte ich dein feierliches Versprechen – ich möchte deinen
Eid
–, dass du ausschließlich im Interesse der Sunderland Associates handelst und dass du Sunderland niemals in irgendeiner Weise unterminierst. Kannst du mir das versprechen? Und denk dran, Raff, hier geht es um die Ehre deiner Familie, nicht nur um deine eigene.»
Raff schloss die Augen und atmete tief ein. Jetzt befand er sich auf moralisch gefährlichem Boden, aber das war unvermeidlich. Genau das war die Herausforderung.
Er ließ zehn Sekunden verstreichen, dann stieß er die Luft aus und öffnete die Augen.
«Yessir.» Dann korrigierte er sich. «Ja, Cyrus. Ich verspreche es. Du hast mein Wort darauf.»
Cyrus nahm seine Zigarre und zog wieder daran. Er spitzte den Mund und ließ den Rauch diesmal langsam herauskringeln. Dies war eines der wenigen Male in seinem Leben, dass er die Folgen eines wichtigen Entschlusses, den er zu treffen hatte, nicht absehen konnte. Das Risiko ließ sich nicht berechnen. Aber er hatte keine Wahl. Und es würde kein gutes Bild machen, wenn er zögerte.
Er übertrug sein Unbehagen auf die Zigarre, beugte sich vor und drückte sie mit einer Geste jäher Gereiztheit aus, wobei er einen Fluch vor sich hin murmelte.
«Okay, Raff, morgen rede ich mit Drake Sunderland, wenn er hier ist. Er weiß alles über dich. Gott weiß, wir haben uns oft genug mit dir gebrüstet, während du in Harvard warst.»
Dann nickte er ernst, rieb mit den drei mittleren Fingern die kahle Stelle auf seinem Kopf und fand einigermaßen wieder zu seiner alten Gelassenheit.
«Aber lass dir gesagt sein: Vielleicht bekommst du denJob nicht einmal mit meiner Unterstützung. Sunderland hat für sein Unternehmen immer eine unabhängige Kanzlei genutzt. Es wäre ein Präzendenzfall, wenn er jetzt plötzlich einen Jusitiziar im eigenen Haus hätte. Andererseits, einen Absolventen der Harvard Law School an Bord zu haben, außerdem noch einen jungen Anwalt aus guter einheimischer Familie – und dann noch einen mit solidem naturwissenschaftlichem Hintergrund –, das klingt schon so, als wäre es einen Versuch wert. Aber wenn sie dich wirklich nehmen, dann wird es wohl erst einmal auf Probe sein. Aber das gilt natürlich überall, in jeder beliebigen Kanzlei, in die du einsteigst.»
VI
DER NOKOBEE-KRIEG
33
S o kam es, dass entgegen aller Wahrscheinlichkeit, entgegen aller äußeren Vernunft, Raphael Semmes Cody der juristische Arm eines der expansionshungrigsten Bauträger in Süd-Alabama wurde. An seinem ersten Arbeitstag unterwegs ins Büro, dachte er über seine gefährlich zwiespältige Lage nach – gleichsam auf Messers Schneide, mitten in einem Loyalitätskonflikt. Schon der leichteste Ausschlag in eine der beiden Richtungen, das wusste er, konnte ihn zum Wendehals machen – zum Saboteur für Sunderland oder zum Verräter für die Naturschützer. Keiner von beiden würde ihm dann je wieder vertrauen, und sein sorgfältig aufgestellter Schlachtplan wäre gescheitert. Er musste also immer konzentriert bleiben und jeden einzelnen Schritt sorgfältig überlegen.
Um Punkt neun Uhr stand er vor dem Bürogebäude. Er blieb kurz stehen und blickte hinauf zu den quadratischen Lettern aus massivem Stahl, in denen über dem Eingang die Aufschrift SUNDERLAND ASSOCIATES prangte. Dann fuhr er mit den Händen über sein neues Leinensakko, um jede Falte, die es gerade geworfen hatte, zu glätten. Er fasste an den Knoten seiner kastanienbraunen Harvard-Krawatte, um zu prüfen, ob sie auch noch perfekt zwischen den Kragenspitzen seines hellblauen Hemdes saß. Befriedigt, dass nichts in Sicht war, was aufClayville, Alabama, hinwies, holte er tief Luft, straffte die Schultern und trat durch die
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