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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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in das Schwarze der Schießscheibe hineinzudenken und es zu treffen, haargenau zu treffen. Dazu kam es zwar nur selten, aber diekognitive Zielsetzung war etwas anderes und stand ohnehin im Vordergrund. Es ging darum, all seine Sinne zu konzentrieren und auf einen Gegenstand von äußerster Einfachheit zu fokussieren und gleichzeitig den chaotischen Rest des gewöhnlichen Lebens auszugrenzen.
    Ausgehend von dieser Erfahrung trat Raff, weil er seine Wertschätzung für die umweltfreundliche Rolle der Jäger ausdrücken wollte, der Nationalen Schusswaffenvereinigung NRA bei.
    Bill Robbins war entsetzt. «Damit gibst du das falsche Signal, Raff. Nimm doch bitte wenigstens den NRA-Aufkleber von der Stoßstange!»
    «Du verstehst das nicht, Bill. Hier geht es um Aufrichtigkeit, um ein reines Gewissen. Soweit ich weiß, ist das Einzige, was dem Sportschießen mit einem .22er Gewehr nahe kommt, Tiefenmassage und Sex.»
    Als er eines Tages vom Schießen aufstand, das Gewehr zur Seite legte und seinen Gehörschutz absetzte, sagte eine Stimme hinter ihm: «Das war ziemlich gut geschossen. Waren Sie bei der Armee?»
    Raff drehte sich um und sah einen Mann vor sich stehen, die Arme in die Seiten gestemmt. Er war etwa vierzig Jahre alt, schlank, und trug einen schlecht sitzenden dunkelblauen Anzug und eine Krawatte mit Stars and Stripes, über der sich seine Kragenenden leicht nach außen bogen. Am Jackenrevers steckte ein massiv goldenes Kreuz. Er war ordentlich gekämmt und glatt rasiert. Sein breites Lächeln war freundlich, widersprach aber den halb geschlossenen Augen und dem unpassend zur Seite geneigten Kopf, als würde er Raff abschätzig mustern.
    Direkt hinter ihm stand ein zweiter Mann etwa in Raffs Alter; er trug Jeans und ein weißes Sporthemdmit drei senkrecht verlaufenden breiten roten Streifen auf dem Bauch. Er hatte Drei-Tages-Stoppeln und einen Schnurrbart, sein langes Haar war glatt nach hinten gekämmt und hing dort lose auf den Hemdkragen hinab. Unter seinem rechten Auge hatte er ein Tattoo in Form einer Träne. Auch auf beiden Seiten des Nackens trug er blaue Tattoos, Flammen schlugen nach oben und sahen aus, als würden sie gleich sein Gesicht versengen. Ununterbrochen kaute er langsam auf etwas herum wie eine wiederkäuende Kuh – vielleicht war es Tabak, wahrscheinlicher aber, dachte Raff, weil er um den Mund herum keine Flecken sah, einfach nur ein großer Kaugummi.
    «Nein, nein, ich habe nie gedient», sagte Raff. «Ich habe nur als Kind schon gern geschossen.»
    «Mein Name ist Wayne LeBow», sagte der erste Mann, «und das hier ist Bo Rainey.»
    Raff schüttelte beiden die Hand.
    «Das ist Reverend Wayne LeBow», sagte Rainey.
    «Ja, Reverend LeBow», bestätigte der Erste. «Aber das mit dem Pfarrer ist nicht so wichtig. Ich habe eine kleine Gemeinde oben bei Monroeville, die Kirche des Ewigen Erlösers. Wahrscheinlich haben Sie davon noch nie gehört.» Glucksend strich er seine Jacke glatt, dann fügte er hinzu: «Nur so fünfzig Mitglieder. Im Alltag arbeite ich in der Justizvollzugsanstalt von Monroeville.»
    Er unterbrach sich, und Raff sagte: «Also, Reverend LeBow, mein Name ist Raphael Cody, sehr erfreut. Was kann ich für Sie tun?»
    Lächelnd legte LeBow wieder den Kopf schief. «Wir wollten fragen, ob Sie ein Bier mit uns trinken würden. Wir hätten da etwas, worüber wir gerne Ihre Meinung hören würden.»
    Raff lächelte zurück. «Natürlich. Ich habe aber nur ein paar Minuten. In einer halben Stunde habe ich einen Termin in meinem Büro.»
    LeBow ging voraus an die Bar, die hinten in Henry’s Guns and Shooting Gallery lag. Es gab Budweiser, Coors, Miller und ein paar andere echt amerikanische Biersorten, die die einfachen Leute tranken. In dieser patriotischen Kneipe wurden weder Eigenbräu noch ausländische Biere ausgeschenkt. Ein träger Deckenventilator wälzte die dicke warme Luft um. Ein Geruch nach Terpentin und Zigarettenrauch hüllte sie ein.
    Sie setzten sich auf Bänke einander gegenüber, an der Wand hingen Seite an Seite die Flaggen der USA und des Staates Alabama. An der Kasse steckte eine Postkarte mit dem konföderierten Kriegsbanner. Die Kanten begannen sich schon aufzulösen, so alt war sie wohl bereits.
    LeBow sagte: «Lernt man viel in Harvard?»
    Raff zögerte, dann erwiderte er: «Offenbar wissen Sie mehr über mich als ich über Sie, Reverend. Natürlich habe ich in Harvard ein paar Dinge gelernt. Das ist aber nichts so Besonderes. Wir haben hier unten auch

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