Ameisenroman

langstarrte er auf den Stapel, seine Hände lagen gefaltet im Schoß. Dann stand er auf und trat ans Fenster. Während er ins Leere blickte, ließ er sich die bizarre Begegnung mit Reverend Wayne LeBow noch einmal durch den Kopf gehen, was ihm aber keine neuen Einsichten bescherte. Kurz darauf setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch. Diesmal vergrub er sich in seinen Akten.
    Als Raff sich spät an diesem Abend bettfertig machte und sich mit der Fernsehübertragung eines Boxkampfes im Weltergewicht ablenkte, rief Robbins endlich zurück. Er sagte, er sei todmüde, bat ihn um Aufschub und bot an, früh am nächsten Morgen herüberzukommen.
    Sie trafen sich zum Frühstück in der Cafeteria im ersten Stock des Sunderland Office Buildings. Sobald sie sich gesetzt hatten, sagte Raff: «Ich glaube, ich habe eine Morddrohung erhalten.» Dann berichtete er so wörtlich wie möglich von seinem Gespräch mit Wayne LeBow.
    «Tja, Glückwunsch. Da bist du dem Schwert des Gideon begegnet», sagte Robbins. «Ich weiß noch, dass ich dich vor diesen Leuten gewarnt habe. Jetzt sieht es so aus, als hielten sie dich für eine ziemlich wichtige Figur hier und wollten ein paar Aggressionen loswerden. Ich kenne diese Konstellation ein bisschen. Rob Davis auf Channel Eight News berichtet manchmal über sie. LeBow ist so ein klassischer egomanischer Aufrührer, wie sie hier in der Gegend wie Pilze aus dem Boden sprießen. Er ist eigentlich ziemlich gebildet. An der Auburn University war er ein paar Jahre, unglaublich, oder? Hat einen Abschluss in Theologie. Er ist kein richtiger Priester, wenigstens wurde er nirgends ordiniert, soweit ich weiß. Er arbeitet als Vollzugsbeamter im Gefängnis von Monroeville. Angeblich quasselt er da die Insassen ständigdamit voll, wie sie zu Jesus finden können. Jetzt hat er gerade eine kleine Kirche da oben übernommen. Wie heißt sie noch mal?»
    «Kirche des Ewigen Erlösers, sagte er, glaube ich.»
    «Ja, genau. Na ja, egal, LeBow ist jedenfalls ein ziemlich fieser Kerl. Aber weißt du, so ein Sonderling ist er hier in Süd-Alabama auch nicht. Viele Leute vom Land, übrigens auch Arbeiter in und um Mobile, denken mehr oder weniger genauso. Jesus kommt zu unseren Lebenszeiten, und wir sollten besser bereit sein. Sie nennen das Entrückung. Die Erretteten fahren direkt leiblich in den Himmel auf, Jesus vorneweg. LeBow hat die Prophezeiungen nur ins Extrem gesteigert. Besorgniserregend ist nur, dass er jetzt aggressiv wird und ziemlich viele Anhänger anzieht. Die kleine Kirche ist jeden Sonntag gerammelt voll. Er errichtet da einen Kult, das ist es. Sollen wir es LeBowismus nennen? Sie warten nur darauf, gegen den Teufel in den Krieg zu ziehen. Der Himmel weiß, was mit dem ursprünglichen Pfarrer passiert ist. Rob Davis kennt die Geschichte wahrscheinlich. Ich versuch daran zu denken und frag ihn, oder vielleicht kannst du selbst mit ihm reden, wenn du willst.»
    Raff atmete mühsam und mit einem zischenden Geräusch ein. Was er da hörte, trug ganz und gar nicht zu seiner Beruhigung bei. Er schob seinen Stuhl zurück, um mehr Platz für seine Beine zu haben, und schloss fest die Augen.
    «Auf jeden Fall», fuhr Robbins fort, «ist es eine alte evangelikale Tradition in militärischer Abwandlung. Schon mal von Billy Sunday gehört, dem großen Evangelisten damals in den zwanziger Jahren? Er sagte immer – ich habe ihn vor kurzem in einer alten Aufnahmegehört: ‹Ich werde die Sünde bekämpfen, bis meine Waffen stumpf sind, und dann werde ich sie zerbeißen, und wenn ich zahnlos bin, dann gehe ich mit dem Zahnfleisch ran.› Das ist ein Anspruch! Aber etwas ist hier doch anders, und das möchte ich nicht zu sehr auf die leichte Schulter nehmen. Radikale Randgruppen wie das Schwert des Gideon sind immer gefährlich. Ein paar von ihnen können wegen nichts und wieder nichts plötzlich gewalttätig werden. Entweder das, oder sie sind von vornherein schon gewalttätige Spinner. Es hat in diesem Land und anderswo schon eine Menge Morde und sogar Massenselbstmorde gegeben. Das Schwert des Gideon passt noch in anderer Hinsicht in das Schema, zumindest hier unten. Wie viele religiöse Randgruppen rekrutiert es sich überwiegend aus verarmten Weißen, die sich irgendwie betrogen fühlen. Im Moment sind sie im Süden die entfremdetste Gruppe überhaupt. Im Prinzip ist es immer dieselbe alte Geschichte. Sie verschaffen sich Gerechtigkeit, wie sie können, sogar mit Gewalt. Wenigstens soziale Gerechtigkeit,