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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Leben.»

36

    D er Schicksalstag für den Nokobee war einer der späten Septembertage, die an der Golfküstenebene so heiß waren, dass man meinen konnte, der Herbst sei als Jahreszeit ganz abgeschafft. Um acht Uhr traten drei Manager im Leinenanzug in den Sitzungssaal im obersten Geschoss des Sunderland Office Buildings. Drake Sunderland, Präsident und Generaldirektor des Unternehmens, das nach seinem Vater benannt war, ging um den Konferenztisch herum an das Büffet, auf dem Frühstück angerichtet war, nahm sich eine Tasse Kaffee, dazu fettarme Milch, aber keinen Zucker, griff nach einem glasierten Donut, wischte sich die Finger an einer Papierserviette ab und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Er war fünfundfünzig Jahre alt, hatte zwanzig Kilo Übergewicht und eine bisher noch nicht diagnostizierte stark verkalkte rechte Halsschlagader.
    Raphael Semmes Cody, Chefjustiziar, ein kleiner, schlanker Mann von achtundzwanzig Jahren, gekleidet in einen teuren Sommeranzug, mit Hemd und Krawatte, entschied sich für ein Croissant, Margarine und Obst. Richard Sturtevant, Nummer zwei in der Firma und Finanzvorstand, jenseits der sechzig, faltig und weißhaarig und mit einem mehr als großzügigen Körperumfang, der von dem guten Leben zeugte, das er führte, zögerte und entschied sich dann für das Gleiche. Beide setzten sich dem Präsidenten gegenüber.
    Drake Sunderland verzog sein Gesicht zu einem 1agutmütigen Lächeln. «Tja, Raff, ich freue mich sehr, dass Sie es geschafft haben. Schön, Sie zu sehen. Was gibt’s?» Er richtete sich beim Sprechen gerade auf. Ein angespannter Morgen, keine Frage. Kein gespielter Humor in seinen Augen. Alle drei wussten, dass dies für die Sunderland Associates ein entscheidendes Meeting war.
    Raff ermahnte sich selbst im Stillen zu Ruhe und Konzentration. Er atmete tief, aber ruhig. «Nun, Sir, ich habe eine gute Nachricht und, tja, eine kleine halbschlechte Nachricht oder zumindest ein oder zwei Probleme, die wir besprechen müssen.»
    Sunderland blickte auf, schob seine Brille auf der Nase nach vorn und musterte über ihren Rand hinweg Raffs Gesicht.
    «Die gute Nachricht», sagte Raff, «lautet, dass wir das Blindgebot für die Nokobee Westside gewonnen haben. Die Anwälte von Jepson in Atlanta haben mich gerade vor einer halben Stunde angerufen und die versprochene Zusage gegeben. Außerdem lagen wir nur fünf Prozent über dem nächsthöchsten Angebot. Da haben wir also knapp die Oberhand behalten; das war wirklich gelungen.»
    Sunderland lehnte sich vor und strahlte wieder. Er streckte mit geballten Fäusten die Daumen nach oben, wie er es bei Football-Spielen an der Auburn University getan hatte, heute Morgen allerdings mit etwas weniger Inbrunst.
    «Das ist gut, wirklich gut. Und was ist die schlechte Nachricht?» Dann runzelte er die Stirn und verzog den Mund nach rechts und links.
    «Tja, Sir, wie Sie sich denken können, sind das wiederdie Umweltleute. Diese Geschichte wird sie nicht glücklich machen. Die Nokobee Westside fällt für sie in die Kategorie ‹biologisch wertvoll›.»
    Vize Sturtevant sagte: «Und was zum Teufel soll das heißen?»
    Raff ignorierte die Frage und sprach weiter. «Sie haben dort einen ‹Hotspot› einheimischer Biodiversität ausgemacht. Ich habe das mit dem Landesamt für Umweltmanagement abgeklärt. Das Gebiet gleich westlich des Lake Nokobee beherbergt zwei Arten Salamander, einen Vogel und eine Schildkröte, die laut Artenschutzgesetz als gefährdet gelten. Und schlimmer noch. In dem Sumpf mit Schlauchpflanzengewächsen an der Grenze zum Staatsforst gibt es zwei endemische Pflanzenarten. Also
endemisch.
Das heißt, die gibt es sonst nirgends auf der Welt.»
    Vize Sturtevant unterbrach ihn mit gespielter Verzweiflung: «Tja, Jungs, die verdammten Salamander und Schlauchpflanzengewächse. Das war’s wohl mit dem Golfplatz.»
    «Ich fürchte, da hängt mehr mit drin», erwiderte Raff. «Der Sumpfkieferbestand darf nicht abgeholzt werden. Das ist ganz unmöglich. Wir hatten angenommen, da es die Sumpfkiefer ja überall im Süden gibt, dass die Abholzung am Nokobee kein Problem darstellen würde. Aber dieser Bestand am Westufer ist ein originärer Altbestand, und in den gesamten USA gibt es nur noch zwei Prozent echten Altbestand wie diesen. Ich weiß, dass das Bauholz vom Nokobee mehr als eine Million Dollar wert ist, aber wir können es nicht ernten.»
    Sturtevant unterbrach ihn wieder. Jetzt musste man hier mal Tacheles

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