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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Kirche, und dann fahren wir runter nach Mobile und essen mit der Familie zu Abend.»
    Kirche bedeutete die methodistische Hauptkirche im Zentrum von Clayville. Marcia und alle Verwandten aufihrer Seite waren Episkopale, aber die nächsten Gottesdienste dieser Konfession wurden in Brewton abgehalten, und das war eine halbe Fahrtstunde weit entfernt. Dorthin fuhren sie also nur ausnahmsweise an besonderen Sonntagen. Ainesley war ein lässiger Südstaaten-Baptist und heimlicher Gelegenheitsatheist, der von baptistischen Pastoren keine besonders hohe Meinung hatte. Aber er fuhr Marcia und Raff pflichtbewusst jeden Sonntag zur Kirche, wenn er nicht in seinem Laden war und Inventur machte. Normalerweise brachte er sie hin und holte sie nach dem Gottesdienst wieder ab. Gelegentlich aber zog er Sakko und Krawatte an und setzte sich neben sie; dann genoss er das Bad im sonoren Klang der Orgel und der Kirchenlieder, ärgerte sich aber über die Schriftlesungen und die Predigt, die auf ihn den Eindruck machten, als sollten sie bis Montag dauern. Am schlimmsten war, dass er nicht rauchen oder irgendetwas trinken konnte, sondern da mitten unter etwa zweihundert rechtschaffenen Alabamern sitzen musste.
    Familie bedeutete für Marcia ihre eigene Familie Semmes. Ihr voller Name lautete Marcia Semmes Cody. Ihr Sohn trug den vollen Namen Raphael Semmes Cody. Marcia hatte beschlossen, ihn nach dem Konföderierten-Admiral Raphael Semmes zu nennen, dessen Kriegsschiff
Alabama
im Bürgerkrieg an der gesamten Atlantikküste Versorgungsschiffe der Nordstaatler gejagt hatte, bevor es von einem größeren Kanonenschiff der Unionisten versenkt wurde, als es gerade von einer Versorgungsfahrt nach England zurückkehrte.
    Semmes war in dieser Gegend ein großer Name. Nördlich von Mobile lag die Kleinstadt Semmes; und am Bienville Square im Zentrum von Mobile standen das alteAdmiral Semmes Hotel und eine Heldenstatue des Admirals. Es gab sogar einen Admiral Semmes Drive in den besseren Vierteln der Stadt, wie es sich gehörte. Es gab die Semmes aus Mobile und die gesamtamerikanischen Semmes, die mit Seitenlinien und angeheirateten Namen ihre Zweige wie eine riesige Eiche weit über die gesamte Republik ausstreckten. Ihr vornehmes Erbe reichte in vielen Linien dreihundert Jahre zurück, also fast genauso weit wie die Geschichte Amerikas selbst.
    Natürlich gab es in Südalabama und hinüber nach Mississippi und Florida auch überall Codys, ein Familienzweig war kürzlich auch nach Australien ausgewandert. Sie waren erfolgreich, Südstaaten-Baptisten und größtenteils aufrechte Menschen. Einer war Arzt gleich hinter der Staatengrenze zu Mississippi in Pascagoula, die meisten Cousins der heutigen Generation aber waren solide untere Mittelschicht – Lkw-Fahrer, Krankenschwestern, Immobilienhändler. In Marcias Augen waren sie den Semmes unterlegen, und sie fand bei ihnen nichts, worauf sie oder Raphael stolz sein könnten – also keine Admirale, Generale, Gouverneure, Senatoren oder Golfchampions. Keinen ererbten Reichtum, keine Ferienhäuser, keine Mitgliedschaften in den richtigen Wohltätigkeitsvereinen und keine Einladungen zu Einweihungsfeiern des Gouverneurs.
    Obwohl sie es in seiner Gegenwart nie direkt ansprach, wusste Ainesley, wie Marcia dachte. Er spürte, dass sie manchmal den Entschluss, ihn zu heiraten, bereute, den sie als eigensinnige junge Frau etwas voreilig getroffen hatte. Die unausgesprochene Spannung schwebte über ihrer Ehe, aber er liebte sie und Raff ohne Vorbehalt, ganz egal, aus welchem sozialen Milieu sie stammte oderwie sie das zum Ausdruck brachte. An seiner eigenen Verwandtschaft war ihm ohnehin nicht besonders gelegen. Bei all seinen Marotten und Bildungslücken war er doch ein unabhängiger Mann. Er war intelligent, manchmal leidenschaftlich, und natürlich hatte er seinen Ehrenkodex, den keiner, der ihn gut kannte, in seiner Gegenwart in Frage gestellt hätte. Obwohl er keine Ahnung hatte, wer Epiktet war, und sich für die alten Griechen im Allgemeinen auch nicht interessierte, war Ainesley ein echter Stoiker. Wie er Raphael erklärt hatte, lebte er wirklich nach den Grundsätzen, die er verinnerlicht hatte; und es ging ihm gut damit. Marcia verstand diesen harten Kern seines Charakters, und er bedeutete ihr sehr viel.
    Heute aber war Marcia mit den Gedanken in Mobile und bei ihren Eltern und dem Haus, in dem sie aufgewachsen war. Sie bereitete sich darauf vor, wieder der Würde der Semmes zu

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