Ameisenroman
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Tante Jessica selbst hatte als junges Mädchen viele Veteranen der Konföderierten kennen gelernt und sich mit ihnen unterhalten. Sie waren zu diesem Zeitpunkt alte Männer, und man sprach sie gewöhnlich als «Cap’n» an, wie es der respektvollen Art an der Golfküste entsprach. Sie überstand die Wirtschaftskrise, als ein Großteil des ländlichen Alabama noch ärmliches Entwicklungsland war und Mobile im Vergleich zu Savannah und New Orleans kaum mehr als ein Kaff. Während des Zweiten Weltkriegs hatte sie die große Einwanderungswelle von schwarzen und weißen Schuldknecht-Bauern miterlebt, die in die Stadt strömten und in der Werft und am Militärflughafen von Brookley Field arbeiteten.
Jessica und ihre Familie waren der Meinung, «unsere Leute» wären allen anderen überlegen, wie es die Kultur ihrer Jugend nicht nur nahegelegt, sondern geradezu eingeimpft hatte. Sogar die armen weißen Schuldknecht-Bauern aus dem Norden wurden als «weißer Abschaum» und als «Erbsenpicker», ihre Kinder als «Flachsköpfe» verschrien – weil sie blond waren. Ein seltsames Paradox, dass dieses Merkmal derart verächtlich jenen Teil der Unterschicht bezeichnete, der zum Großteil von den schottisch-irischen Pionieren Amerikas abstammte.
Schwarze genossen damals ein Mindestmaß an Respekt,zumindest in Jessicas Jugend. Im höflichen Gespräch hießen sie ‹Negroes›, und in den weißen Familien aller Klassen, die an Rassenreinheit glaubten, wurde diese geradezu fanatisch geschützt. Ohne Ausnahme galt die Ein-Tropfen-Lehre: Ein einziger schwarzer Vorfahre machte einen zum Negro. Die weißen Angehörigen der Arbeiterklasse fürchteten derart um den Verlust ihres von Geburt ererbten Rechts auf rassische Überlegenheit, dass es eine massive Beleidigung war, wenn man als «nigger lover» beschimpft wurde.
Jessica war wie die meisten Mädchen ihres Umfelds nach den Begriffen der Welt jenseits von Mobile kaum gebildet. Nur selten las sie Zeitung oder ein Buch. Ein Fernseher war ihr bis heute nicht ins Haus gekommen. Dafür war sie ein wahres Lexikon der Lokalgeschichte und konnte in der sympathischen Tradition der Südstaaten Geschichten erzählen. Wenn sie einen in ihren Fängen hatte, hörte sie kaum auf zu reden, und sie konnte jeden bezaubern, der sich auch nur im Geringsten für die authentische Südstaaten-Kultur interessierte.
Jessica war in Wirklichkeit gar nicht Marcias Tante. Diesen Titel erhielt traditionell jede Frau, ob weiß oder schwarz, die eine enge und geliebte Freundin war. Immerhin war Jessica wenigstens eine Semmes und damit mit Sicherheit irgendwie Marcias entfernte Tante unbekannten Grades. Marcia war ihr als kleines Kind von ihrem Vater vorgestellt worden, und während sie heranwuchs, lernte sie sie als offizielle Stammbaumhüterin im Clan der Semmes aus Mobile kennen.
Als Jessica mit Marcia und Raff in den Salon kam, erhob sich dort grußlos eine blasse Frau von etwa siebzig Jahren. Das war Sissy, die schon bei Jessica wohnte,solange sich alle erinnern konnten. Zwar kannte keiner wirklich ihren Familiennamen, wenngleich manche meinten, sie hieße Dupree oder etwas in der Art. In der Sippe der Semmes wurde gar gemunkelt, Sissy sei ein Abkömmling der ersten französischen Siedler von Old Mobile. Andere vermuteten mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit, dass sie als junge Frau mit einer verlotterten Familie von Teilpächtern gekommen war, dass Jessica sie irgendwann angestellt und dann bei sich aufgenommen hatte. Keine der Semmes-Frauen brachte das Thema in Jessicas Anwesenheit je zur Sprache. Es war ein alter Brauch im Süden, verarmte ältere Verwandte und Freunde bei sich aufzunehmen, wenn man genug Platz in seinem Haus hatte.
Jessica hatte selbst keine Kinder, und so gab es niemanden, der das oder ihre sonstigen Geschäfte hinterfragen musste. Ob Jessica Geld hatte – irgendwelches Geld musste ja da sein – oder ein Testament, wusste niemand. Niemand konnte sich erinnern, dass sie je irgendetwas Wertvolles verschenkt oder um irgendwelche Hilfe gebeten hätte.
Sissy wurde losgeschickt, um Limo und Kräcker zu holen. Marcia und Raff folgten Jessica in den Salon, aus dem ihnen der typische Geruch des vernachlässigten Alters entgegenschlug, eine Mischung von ungewaschenen Körpern und morschen Polstermöbeln mit einem zarten Hauch von Urin. Falls das Marcia störte, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Als die beiden Frauen sich setzten, gab sie Raff einen sanften Stoß und
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