Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
Vom Netzwerk:
entsprechen.
    Ainesley stand an der Vordertür. Er hatte die Fahrerkabine des Pickups sauber gemacht und Benzin nachgefüllt, jetzt begann er ungeduldig zu werden.
    Marcia rief ihren Sohn: «Los, bitte komm! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!» Sie war ohnehin chronisch nervös, an diesem Morgen aber war sie besonders angespannt, während sie auf Raff warteten. Sie raste durch Küche und Wohnzimmer, rückte Gegenstände gerade, die auch nur ganz leicht verschoben waren, blickte prüfend in den Dielenspiegel und zupfte ihre Frisur zurecht.
    Nach dem Gottesdienst, der allen dreien unendlich vorkam, umschifften die Codys die Menge der plaudernden Kirchgänger und eilten nach Hause. Am Küchentisch schlangen sie ein leichtes Mittagessen hinunter. Keinen Sonntagsbraten heute; sie würden abends bei ihren Elternalle gediegen schmausen. Ohne ihre besten Sonntagskleider auszuziehen, liefen sie hinaus zum Pickup und machten sich auf die einstündige Fahrt nach Süden Richtung Mobile.
    Allerdings fuhren sie nicht direkt zum Familiensitz der Semmes am Azalea Trail.
    «Zuerst schauen wir kurz bei deiner Tante Jessica vorbei», sagte Marcia zu Raff.
    «Ach, du lieber Himmel!», murmelte Ainesley. Auf keinen Fall geh ich da rein, dachte er. Ich setze mich irgendwo in den Schatten und rauche, und einen oder zwei Söldner kann ich auch gleich köpfen. Vorsorglich hatte er ein paar dieser Bierflaschen kühl gestellt und sie unter die Plane der Ladefläche gepackt, bloß für den Notfall.
    Auf Marcias Anweisung hin bogen sie nach Satsuma ab, einen abgelegenen Vorort nördlich von Mobile. Nach mehreren Kurven kamen sie auf die Savannah Street in der Altstadt. In der Mitte des ersten Blocks, dessen Gärten vornehm mit Virginia-Eichen und Magnolien bewachsen waren, brachte Ainesley den Pickup vor einem heruntergekommenen kleinen Haus zum Stehen, das deutlich weiter entfernt von der Straße als die Reihe der anderen Anwesen stand. Das Haus hatte nur ein Stockwerk, eine leicht durchhängende Veranda mit einer Hollywoodschaukel und zwei Schaukelstühlen und ein Dach in eher kritischem Zustand. Auf dem weitläufigen Rasen kämpften Unkraut und Fingerhirsen um die Vorherrschaft. Hübsche unbeschnittene Azaleen und Kräuselmyrten vervollständigten das Flair des freundlichen Verfalls.
    «Vor hundert Jahren muss es hier wunderbar ausgesehen haben», witzelte Ainesley.
    Dann verkündete er seine Fluchtstrategie: «Ich bleibehier im Wagen, bis ich euch reingehen sehe. Dann komme ich euch in zwei Stunden wieder abholen. Sag ihr einfach, ich habe zu tun.» Er blickte geradeaus, um jede Widerrede zu vermeiden, und wartete, bis sie ausgestiegen waren.
    Sobald Marcia an die Tür geklopft hatte, ging sie auch schon auf – und da stand Tante Jessica, schlohweiß und mit Zahnlücken, in ihrer knöchellangen geblümten Kittelschürze. Sie musste ihr Kommen durch das Vorderfenster beobachtet haben. Natürlich war sie da und wartete, ob nicht irgendjemand sie besuchen wollte. Es war bekannt, dass sie ihr Haus nie verließ.
    «Guter Gott, erbarme dich meiner Seele, sieh nur, wer da ist! Na, dann kommt mal alle rein!»
    Tante Jessica war ein paar Jahre über neunzig. Sie war kurz vor der Jahrhundertwende geboren und hatte ihr ganzes Leben in der Savannah Street verbracht, selbst als junge Frau war sie nie weiter nach Osten gekommen als zu den Tränken in Fairhope und nie weiter nach Westen als nach Biloxi. Ihre Großmutter hatte als junge Frau zur Zeit des Bürgerkriegs in Navy Cobe gelebt, und zwar so nah an Fort Morgan, dass sie das Grollen der Artillerie hören konnte und sah, wie Farraguts Flotte in die Bucht von Mobile vorstieß. Eine feindliche Kanonenkugel war über das Fort hinweggeflogen und im Garten der Familie gelandet.
    Nach dem Krieg hatte ihr Großvater eine kleine Farm an einer Straße gekauft, die damals Old Savannah Road hieß. Wenn sie sich an die Besatzung erinnerten, räumte Jessicas Großmutter immer ein: «Die Yankees haben uns nie etwas getan.» Ein einziges Mal war ein Soldat erwischt worden, wie er ein Huhn aus dem Garten gestohlenhatte, und sein direkter Vorgesetzter hatte sich bei der Familie dafür entschuldigt. «Das waren eigentlich gute Jungs», sagte sie. «Die wollten ja selber nur nach Hause.» Trotzdem hatte der Krieg die Wirtschaft zum Erliegen gebracht, und Land war billig. Am Strand der Halbinsel am Fort Morgan, die die Bucht von Mobile südlich halb abschloss, konnte man für zehn Dollar pro Morgen Grundstücke

Weitere Kostenlose Bücher