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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Ammoniakgestank war überwältigend. Ein Hahn und mehrere Hennen liefen draußen frei herum. Sie stoben auseinander, als Sissy auf sie zutrat und sie mit wedelnden Armen verscheuchte.
    Während sie am Hühnerstall entlangging, fing Sissy an zu lachen und zeigte dabei hierhin und dorthin, begleitet von ständigem «Schau mal! Schau mal da!» Ansonsten war sie nicht gerade gesprächig. Raff versuchte es, aber er konnte an den Stellen, auf die sie deutete, nichts Besonderes erkennen. Als sie am hinteren Ende des Hühnerstalls waren und umkehrten, rief Sissy immer weiter, und ihr Gelächter wurde lauter. Raff wurde allmählich unsicher und wollte an ihr vorbei zum Haus zurück. Sissy hörte auf zu lachen und blieb stehen, als wollte sie ihn zurückhalten. Dann machte sie auf dem Absatz kehrtund jagte eine der frei laufenden Hennen in dem kleinen Hof ganz nach hinten. Sie schnitt ihr in einer Ecke am hinteren Holzzaun den Fluchtweg ab und packte sie schließlich, bis sie sie flatternd und gackernd in ihren Armen hielt. Mit beiden Händen umklammerte sie die Beine, drehte das wild um sich schlagende Tier um und hielt es so, dass der Kopf nach unten hing, damit Raff es sehen konnte. Dann ging sie hinüber zu einem niedrigen Holztisch hinten am Hühnerstall, machte sich eine Hand frei und griff nach einer kleinen Axt. Sie wandte sich um und sah Raff ins Gesicht, hielt Huhn und Axt hoch und sagte ihr letztes Wort für diesen Tag.
    «Das Abendessen.»
    Raff war eingeschüchtert und fürchtete sich vor dem, was hier gleich passieren würde. Dann nahm er sich schnell zusammen. Er war entschlossen, nicht schon wieder bei der Hinrichtung eines großen Vogels zuzusehen, dem zweiten in nur einer Woche, und diesmal noch dazu auf so unvorstellbar grausige Weise. Deshalb sagte er laut und deutlich: «Danke, Miss Sissy, das hat Spaß gemacht», ging dann zur Hintertür des Hauses und trat ein. Hinter ihm krähte der Hahn. Sissy stand stocksteif da und blickte ihm nach.
    Ainesley kam zum verabredeten Zeitpunkt wieder, auf die Minute pünktlich, besorgt, Marcia könnte ihn hereinrufen, damit er Jessica Guten Tag sagte. Nach einer ausgiebigen Verabschiedung, diesmal glücklicherweise ohne Aufforderung zum Küssen, stiegen Marcia und Raphael in die Kabine des Pickups, und die Familie fuhr weiter Richtung Stadtmitte von Mobile. Marcia war schweigsam, in Gedanken weilte sie noch bei dem angenehmen Plausch mit Tante Jessica. Als sie aus Satsuma hinausfuhren,drehte sich Ainesley zu Raff um, zwinkerte ihn an und grinste.
    «Hey, Scooter, hast du Spaß gehabt?»
    Marcia starrte ihren Sohn aus dem Augenwinkel bitter an. Raff zögerte. Zur Bewältigung dieser kleinen Krise würde er seine gesamten diplomatischen Fähigkeiten zum Einsatz bringen müssen.
    «War schon in Ordnung, denke ich.»
    Marcia fragte nach: «Und wie war es mit Sissy und ihren Hühnern?»
    Raff blickte stur geradeaus. Er wollte heraus aus dieser Zwickmühle, und zwar schnell.
    «Okay, denk ich mal. Aber ein bisschen komisch ist sie ja schon.»
    «Verrückt, meinst du», sagte Ainesley.
    Wie ein Springteufel keifte Marcia mit der passenden Oberklasse-Antwort zurück: «Ainesley, ich habe dir schon so oft gesagt, dass du gegen niemanden Vorurteile haben sollst, bloß weil er anders ist als du.»

6

    D er alte Familiensitz der Semmes lag auf einem ganzen Morgen Land im Herzen des alten Mobile, am Azalea Trail gleich hinter der Old Shell Road. Es war ein richtiges Herrenhaus aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, mit einer Wendeltreppe, die hinauf in die privaten Räume im zweiten Stock führte. Sogar einen eigenen Namen hatte es, Marybelle, nach der Gattin des ersten Besitzers, die bei einer Gelbfieberepidemie in den 1840er Jahren ums Leben gekommen war. Erbaut worden war es von Richard Stoughton, einem Möbelfabrikanten, der mit seiner Familie aus Providence heruntergekommen war und ein florierendes Unternehmen gegründet hatte. Mobile war damals eine aufstrebende Stadt, und diesen Aufstieg verdankte sie ihrem Standort als Knotenpunkt und praktisch einziger Durchgangshafen zu der üppigen Baumwoll- und Tabakproduktion im Becken von Mobile. In weniger als vierzig Jahren war das Dorf mit zehn Häuserblöcken zu einer kleinen Stadt herangewachsen.
    Als das Parlament von Alabama 1861 den Austritt des Staates aus der Union beschloss, wusste Stoughton, dass der Krieg unausweichlich war. Eilig schaffte er sein Vermögen in eine New Yorker Bank, was unter dem neuen Gesetz der

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