Ameisenroman
befahl: «Gib deiner Tante Jessica einen Kuss.»
Der Zehnjährige war in dieser Kunst gut geübt. Er ging zu ihr und setzte ein Küsschen auf Jessicas Stirn, undzwar seitlich, um dem behaarten Muttermal auf ihrer Nase auszuweichen.
Jessica lächelte. «Danke, Mr. Raphael.» Raff gab die erwartete Antwort: «Yes, Ma’am», und setzte sich auf einen Stuhl vor dem Salonfenster. Hinter einem Topf mit Plastikfarn kam eine Katze hervor und strich ihm um die Beine, dann setzte sie sich und starrte ihn mit hungrigem Flehen an.
Marcia zog ihren Stuhl dicht neben Jessicas, und die beiden verfielen schnell in ein sanftes, angeregtes Gespräch. Jessica schien den Stammbaum der Semmes und all ihrer Seitenlinien bis ins siebzehnte Jahrhundert zurück im Kopf zu haben. Besonders ihre archivarischen Kenntnisse über die Semmes aus Mobile waren absolut lückenlos. Die beiden Frauen durchstöberten Geschichten über die ansässige Familie und ihre Vorfahren, sie freuten sich gemeinsam an jedem Detail und kamen von einem Stöckchen aufs andere. Raff konnte nur Bruchstücke ihres Gesprächs aufschnappen.
«Dein Cousin Tommy auf der Seite deiner Tante Sara ... Nein, nein, ich bin ganz sicher, sie ist mit der kleinen Mary Jo gleich da an der Westseite des Magnolienfriedhofs begraben ... Oh, ich weiß, das waren so furchtbare Tage, da war so viel Kummer ... Nun, ob du es glaubst oder nicht, ich bin ihm wirklich einmal begegnet, ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein ... Nein, ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, seit sie nach Texas gegangen sind, das ist schon so lange her ... Kapitän? O nein, Kapitän kann er nicht gewesen sein, obwohl ich weiß, dass Vetter Rosalee behauptet, er wäre es gewesen, aber denk mal, er war ja erst achtzehn, als er heimging ... O du liebe, ja, geschieden, aber nicht einmal,mag man es glauben,
zweimal
... Festgenommen sagst du, vielleicht, aber gleich am nächsten Morgen war er jedenfalls zurück in Mobile ... Bei den Südstaaten-
Baptisten
jetzt? Gott im Himmel, erbarme dich ...»
Marcia war entzückt, wie es sich geziemte für eine Gehilfin bei der amtstragenden Familienhistorikerin.
Raff versuchte zuzuhören und etwas über seine Vorfahren bei den Semmes zu erfahren, wie Marcia es ihm aufgetragen hatte, aber er hörte nicht genug und konnte nicht einer Geschichte folgen. Lieber las er Comics; er war weder Ahnenforscher noch ein Mathematiker, wie man es sein musste, wenn man die große Zahl der Verschiedenen derart vergöttern wollte. Also schaltete er ab und begann herumzuzappeln. Er griff nach der Katze, schlug die Beine übereinander und stellte sie wieder nebeneinander, drehte und wand sich auf seinem Stuhl. Dann ließ er seine Augen umherwandern. Im Halbdunkel neben der Flurtür hing ein Ölgemälde des konföderierten Kriegsschiffs
Alabama
und daneben eine verblichene Fotografie des Admirals, der es kommandiert hatte, Raphael Semmes persönlich. Und überall im Zimmer hingen, so eng, dass die Rahmen sich fast berührten, Porträts von Leuten, einzeln oder in Grüppchen, viele handgezeichnet. Der Kleidung nach zu schließen, waren die Bilder etwa ein Jahrhundert alt, stammten also vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts und von der Jahrhundertwende. Vereinzelt fanden sich auch Zeitungsausschnitte und über einem ein gerahmtes Band mit militärischen Orden. Daneben fand sich eine goldgesäumte Urkunde der Mobile Daughters of the Confederacy. In deren Mitte prangte das konföderierte Kriegsbanner, dessen Rot zu Rosa verblasst war. Keines der Bilder war beschriftet.
Nach beinahe einer Stunde kam Sissy mit der Limonade und einem Teller Kräcker zurück. «Scooter», sagte Marcia, «nimm dir doch dein Glas und geh mit Sissy raus zu den Hühnern.»
Erleichtert blickte Raff auf und sprang von seinem Stuhl. Er stieg über die Katze hinweg, die sich zu einer Schlafkugel zusammengerollt hatte, und ging hinter Sissy her in die Diele. Durch eine Küche voller Marmeladengläser und angeschlagener Emailtöpfe ging es hinaus in den Hinterhof. Der war ein kleines eingezäuntes Gehege zwischen schiefen Trompetenbäumen, einer breitblättrigen Sorte, die offenbar in kahlen Stadtgärten am besten gedeiht. Der gestampfte Lehmboden war von Hühnerdreck und ausgefallenen Federn übersät. An einer Seite des Hofs stand ein Hühnerstall mit gusseisernem Dach und Seitenwänden aus Hühnerdraht. In dem Durcheinander aus Hühnerstangen und Nistkästen tummelte sich ein Pulk gackernder Hühner. Der
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