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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Erde und sah zu, wie sie Tunnels gruben.
    Die Natur funktioniert, so lernte Raff, weil sie einer Ordnung folgt, und aus der Ordnung erfolgt die Schönheit. Kleine Vögel singen am Morgen. Zikaden zirpen nachmittags, und Laubheuschrecken rasseln nachts. Grillen kommen in der Dämmerung hervor und zirpen im Gras. Und wenn Leuchtkäfer mit ihrem aufblinkenden und erlöschenden Hinterleib Punkte und Striche in die schwarze Abendluft schreiben, leuchten sie heller als die Sterne am mondlosen Himmel. Jedes Wesen, begriff Raff allmählich, hat eine innere Uhr. Jede Stunde, die vergeht, nimmt einige Vertreter aus dem Spiel und lässt andere neu auflaufen.
    In einer bedeutsamen Hinsicht war Raffs Lernprozess völlig normal. Und er war ursprünglich. Seit zweihunderttausend oder mehr Jahren seiner Urgeschichte musste der Mensch zum Großteil so lernen wie Raff, einfach nur, um zu überleben. Steinzeiteltern konnten von dem sprechen, was sie wussten, aber nachhaltige schriftliche Zeugnisse konnten sie nicht verfassen. Ihre mathematischen Kenntnisse beschränkten sich aufs Zählen, vielleicht auf «eins, zwei, viele» – wenn überhaupt. Reisen über die Grenzen des Stammesreviers hinaus waren selten und sehr gefährlich. Geografisches Wissen reichte bis zum nächsten Fluss, zu einem Gebirgszug oder einem Streifen Galeriewald. Dahinter lebten Menschen, die anders sprachen und sich anders kleideten. Sie waren, so wussten die Einheimischen, Betrüger, Giftmischer und Kannibalen. Beherrscht wurden sie von dämonischen Göttern.
    Diese Ignoranz freilich galt nicht für die unmittelbare Umwelt. Um überleben zu können, musste ein Stamm über nahezu enzyklopädisches Wissen über alle wichtigenPflanzen und Tiere in seinem Umfeld verfügen. Damit sich alles klar voneinander unterschied, mussten Hunderte, ja Tausende Arten benannt werden. Konnte auch ein gewöhnlicher Mensch all dieses Wissen nicht beherrschen, so konnte man aber auf die Ältesten und auf Schamanen zurückgreifen, die dem Stamm als wandelnde Archive dienten.
    Obwohl vielen der Pflanzen- und Tierarten Zauberkraft und mythische Erzählungen zugeschrieben wurden, blieb die praktische Information über sie korrekt erhalten. Regelmäßig wurde sie auch durch die Erfahrung neu geprüft. Schon die kleinste Fehlinformation konnte zu einer Katastrophe führen. Jedes Kind kannte die Antworten auf Fragen, die einem heutigen Kind nie gestellt werden. Wo lauern versteckte Vipern ihrer Beute auf? Welche der vielen Pilzsorten sind essbar, und welche sind tödlich? Wo findet man die tief reichenden Knollengewächse, die uns über Dürrezeiten hinweghelfen? Und wo gräbt man nach Wasser? So muss man sich die Proto-Wissenschaft vorstellen, die die Kinder über Sprache und Nachahmung erlernten und vor allem über die eigenen, umsichtigen Entdeckungen festigten.
    Genauso funktionierte Raffs Selbststudium am Nokobee, obwohl seine Eltern es fälschlicherweise für belangloses Kinderspiel hielten. Es machte Spaß, und es passte zu der Art, in der das Gehirn strukturiert ist. Bestimmt wurde es von Genen, die zu modernen Klassenzimmern und Schulbüchern nur mangelhaft passen.
    Raffs Lernprozess war kinästhetisch, das heißt, er funktionierte über Tätigkeiten, die alle Sinne einsetzten, und kanalisiert wurde er vom Instinkt. Als sein Mentor konnte ich ihn fragen:
Wie lernst du am besten etwas übereinen Frosch? Und dann sagte ich: Nicht, indem du ein Buch liest. Nicht, indem du ein Bild anschaust oder einen Frosch in die Hand nimmst. Um wirklich dauerhaft etwas über den Frosch zu lernen, musst du einen finden, der in der Natur lebt, musst du ihn beobachten, seinen Rufen zuhören. Untersuche seinen Lebensraum, Raff, sieh dir an, welchen Platz er sich ausgesucht hat, schleich dich an, fang ihn, setze ihn in ein Glas, und behalte ihn eine Weile. Untersuche ihn, und lass ihn dann in der Nähe des Ufers frei, wo du ihn gefunden hast, und sieh ihm zu, wie er loshüpft und wegtaucht. Der Begriff von einem Frosch wird dich für immer begleiten, wenn du so lernst. Du kannst dir zusätzliche Informationen aus der Wissenschaft holen, aus Büchern und aus dem Mythos, und aus all deinen Schulfächern auch, aber schlauer wirst du, wenn du in der Realität des Froschs verwurzelt bist. Und außerdem wird dir dann so viel an Fröschen liegen wie sonst keinem
.
    Es war vorhersehbar, dass Raphael Semmes Cody die Gemeinschaft derer suchen würde, die die Welt sahen wie er, und dazu konnte ich ihn nur

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