Ameisenroman
präsentierte sich der Sekundärbestand rund um den unberührten Sumpfkiefergürtel am Dead Owl Cove und im Großteil des Gebiets östlich des Lake Nokobee. Westlich des Sees hingegen und über fast zwei Meilen bis in den Ziebach National Forest hinein befand sich die Kiefersavanne noch beinahe in ihrem ursprünglichen Zustand.
Es mag seltsam klingen, aber das Feuer war und ist der Freund der alten Sumpfkiefersavanne. Ohne menschliches Zutun wurden in regelmäßigen Abständen durch Blitzschlag Brände entfacht, die sich dann langsam durch den bodennahen Jungwuchs ausbreiteten. Die vielfältige natürliche Bodenvegetation überlebte nicht nur die unter geringer Hitzeentwicklung fortschreitenden Brände, sondern war sogar auf sie angewiesen, um das Wachstumanzuregen und ihre Vorherrschaft zu sichern. Genau dieses Phänomen untersuchten Alicia, meine Frau – selbst eine erfahrene Ökologin –, und ich seit so vielen Jahren am Nokobee Tract. Wir konnten mit detaillierten Protokollen nachweisen, dass sich bei einer Unterdrückung der natürlichen Brände die eindringenden Bäume und Büsche aussäen und die ursprüngliche Bodenvegetation zu überwuchern beginnen. Innerhalb von zehn Jahren gewinnt das dichte Gebüsch die Oberhand, das überwiegend aus Elliot- und Weihrauchkiefer, Wassereiche, Lorbeereiche, Amberbaum und jeder Menge weiterer Strauch- und kleiner Baumarten besteht. Das neue Gehölz bildet eine dicke Schicht toten Laubs und abgebrochener Äste. Ein Großteil davon hängt so hoch über dem Boden, dass es gut durchlüftet wird und leicht austrocknet. Damit wird es hervorragendes Zunderholz, und wenn jetzt ein Feuer entfacht wird, kann es sich zu einem verheerenden Flächenbrand ausweiten, der großflächig fortschreitet und bis an die Kronen der kleineren Bäume hinauflodert, Straßen und Flüsse verschlingt und auf weiter Flur für biologischen Kahlschlag sorgt.
Die Sumpfkiefersavanne hingegen, die sich im Grunde kontinuierlich mittels vom Blitz entfachter Brände selbst erneuert, ist ein Ökosystem, das über Tausende, ja Millionen von Jahren existierte. Seine Stabilität und die gleichbleibenden Lebensbedingungen ermöglichten die Herausbildung einer vielfältigen Bodenflora und von Tieren, die ihr bestens angepasst waren. Wenn aber der Zyklus von Bodenfeuer und Wiederwuchs erst einmal durchbrochen ist, ist sie verloren und lässt sich kaum wiederherstellen. Sie ist äußerst verletzlich, und ihr letzter Restbestand könnte leicht bald verschwinden.
* Einige der im Buch genannten Artennamen sind im Deutschen nicht eingeführt und wurden aus ihren englischen Trivialnamen übersetzt. Anm. d. Ü.
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D ie enge Bindung von Raphael Semmes Cody an den Nokobee Tract begann, als er als kleiner Junge mit seinen Eltern zum Sonntagspicknick an den Dead Owl Cove kam. Da saßen dann Ainesley und Marcia am Ufer, unterhielten sich, rauchten und angelten gelegentlich Brassen und Forellenbarsche. Der kleine Raff durfte ganz auf eigene Faust umherstreifen. Seine Mutter ließ ihn gewähren, nachdem sie ihm die immer gleiche vernünftige Ermahnung erteilt hatte.
«Bleib in Sichtweite! Und komm sofort zurück, wenn ich dich rufe, klar? Bleib vom Wasser weg und geh nicht ins Gebüsch! Pass auf Schlangen auf! Lauf schnell zu uns, wenn du eine Schlange siehst!»
So gut es ging, ohne dass er dabei erwischt wurde, missachtete Raff jede einzelne dieser Ermahnungen, wie er mir und Alicia später gestand. Er tat, was kleine Kinder tun, wenn sie keine Spielsachen und Spielkameraden haben und der Natur ausgesetzt werden. Sie erkunden ihr Umfeld. Sie werden Sammler und Jäger. Wenn sie keine Angst haben, und das hatte Raff in seiner Unschuld überhaupt nicht, entdecken sie jede Menge Geschöpfe – Arten, die sie im Zoo oder in Bilderbüchern oder im Fernsehen noch nie gesehen haben, ja für die es nicht einmal Namen gibt. Jede Pflanzen- und Tierart ist für ein kleines Kind so unmittelbar präsent und so neuartig undseltsam, dass sie ein Gegenstand ungeahnter Möglichkeiten wird.
Raff begann am Nokobee ein vielseitiges, vom Zufall bestimmtes Selbststudium der Naturkunde. Als er noch kaum mehr als ein Hosenmatz war, sah er schon eine Ameisenwespe in einer geraden Linie über das tote Laub am Waldrand laufen. Das Insekt war so groß wie eine Hornisse und trug einen dichten rot-gelben Borstenmantel. Er konnte das Tier nicht einordnen; eine Ameise war es jedenfalls nicht. Es war eine flügellose parasitäre Wespe, ein Weibchen auf
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