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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Blitz vor einem wegranntenin ihre Verstecke unter den Überresten umgestürzter Bäume. Oben in den Kronen der Sumpfkiefern holten sich die Kokardenspechte ihre Ameisen, die zu Millionen dort hausten. Die Schwärme von Elritzen in den Untiefen des Sees hatten einen Namen und ihren Platz in der Nahrungskette zwei Stufen unterhalb der fünf Alligatoren, die an den Ufern auf und ab streiften.
    Einst hatte im morastigen Schilfgestrüpp des Südens der Gelbstirn-Waldsänger genistet, der aber inzwischen ausgestorben war. Das letzte Exemplar war 1965 gesichtet worden – so zumindest hieß es. Vielleicht aber waren sie ja doch nicht ganz und gar verschwunden. Womöglich, glaubte Raff, gab es ja irgendwo noch welche. Vielleicht würde eines Tages ein glücklicher Naturforscher wie er für die langen Stunden am Nokobee mit dem an Insekten erinnernden Summen seines Gesangs und einem kurzen Blick auf ein davongekommenes Exemplar belohnt werden.
    Auch der Elfenbeinspecht, die größte amerikanische Spechtart, galt als ausgestorben. Aber wie konnte man da so sicher sein? Im Auwald des Choctawhatchee östlich des Nokobee hatte es unbestätigte Sichtungen gegeben. Vielleicht, so sagte mir Raff, wäre er derjenige, der tief im Wald um den Lake Nokobee den auffälligen Ruf erkennen würde – wie eine Spielzeugflöte machte es piet! piet! –, und dann würde er den lauten Doppelhammerschlag eines Schnabels hören, wenn der Vogel die Rinde abschälte und seine lange Zunge aufrollte, um eine Käferlarve aus ihrem Versteck zu angeln. Dann würde er hinaufsehen und durch das Blattwerk ein Paar sichten, das sich durch die toten Laubbäume arbeitete, ihre langen weißen Schnäbel wie lebende Bohrer, die Streifen vonglänzendem Weiß auf dem Rücken und auf den Flügeln deutlich sichtbar, wie es das Bestimmungsbuch sagte. Und dann würde er begreifen, warum man sie manchmal auch Herrgottsvogel nannte. «Herr Gott, was ist das denn?», sollen die Siedler gesagt haben, als sie zum ersten Mal einen zu Gesicht bekamen.
    Wenn man Raff danach fragte, würde er sagen, dass der Wald am Nokobee sicherer sei als jede Straße in der Stadt. Dabei war er alles andere als nur ein Reality-Disneyland. Nichts in diesen Wäldern war arrangiert. Nichts dort war von Menschenhand geschaffen. Lebensräume wie diesen hatte es überall im Süden jahrtausendelang gegeben, bevor irgendein Mensch auch nur einen Fuß auf den nordamerikanischen Kontinent gesetzt hatte. Keine menschliche Hand, kein menschlicher Verstand konnten auch nur ansatzweise nachahmen, was so ein Ort alles beherbergte.
    Zu seinem dreizehnten Geburtstag bekam Raff von Ainesley ein Red-Ryder-Luftgewehr Modell 1938. Es sollte Raffs Verhältnis zur Fauna am Nokobee grundlegend verändern. Das Gewehr hatte eine Schusskapazität von 650 BBs – diese kleinen runden Stahlkugeln wurden mit der Kraft des Luftdrucks, den man durch die Betätigung des Spannhebels aufbaute, einzeln abgefeuert. Sobald Raff es in Händen hielt, begeisterte ihn die Vorstellung von einer eigenen Waffe. Es war nicht wie das kanonengroße Gewehr seines Vaters, das ihn drei Jahre zuvor so verschreckt hatte. Die Red Ryder hatte die richtige Größe, und sie gehörte ihm, Raphael Semmes Cody. Er spürte, wie ihn von ganz tief innen heraus ein ungewohntes Gefühl überkam. Das Luftgewehr bedeutete Macht, die er sich nicht verdient hatte, die ihm nicht versprochen war,sondern die unmittelbar von einer Hand in die andere weitergereicht wurde.
    Als Marcia die Red Ryder erblickte, hielt er ihn gerade schräg vor dem Körper und genoss sein Gewicht und seine Ausgewogenheit. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und schrie: «Ainesley, was um
Gottes
willen hast du denn da angestellt?»
    Raff wandte sich ab, um den Stein des Anstoßes ihrem Blick zu entziehen.
    «Du hast es versprochen. Du hast es mir
versprochen!
Willst du, dass er sich umbringt? Oder jemand anderen?»
    Ainesley schüttelte ungläubig den Kopf und streckte seiner Frau die offenen Handflächen entgegen, damit sie sich beruhigte.
    «Neinneinnein», sagte er. «Du verstehst das absolut falsch. Das hier ist keine echte Waffe. Damit kann man niemanden verletzen. Man schießt damit nur kleine Stahlkugeln auf Zielscheiben. Selbst wenn jemand getroffen wird, passiert gar nichts, außer vielleicht ein blauer Fleck.»
    Marcias Antwort kam prompt. «Er könnte jemandem die Augen ausschießen!»
    «Nein, nein, das wird er nicht. Schau mal, mit fast allem kann man jemanden

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