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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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der Suche nach Käferlarven, die sie als Wirt für ihre eigenen Larven benutzen wollte. Raff flitzte zu diesem Fundstück, beugte sich darüber und nahm es in die Hand. Sofort traf ihn der mehrere Millimeter lange Stachel der Ameisenwespe. Er ließ sie fallen, und sie spazierte weiter, als wäre nichts geschehen. Der Stich auf der Hand brannte wie Feuer. Raff setzte sich hin und weinte vor Schmerz – aber so leise, dass niemand ihn hörte. Als er eine Stunde später wieder zu seinen Eltern kam, pochte die Hand noch immer, aber er sagte nichts. Er wusste, wenn er die Geschichte erzählte, müsste er bei künftigen Ausflügen stets in der Nähe seiner Eltern bleiben.
    Die Ameisenwespe lehrte Raff ein Grundprinzip der Naturkunde: Lass die Finger von farbenprächtigen Geschöpfen, die keine Angst vor dir zeigen. Bei einer späteren Gelegenheit sollte der Terrier der Codys dieselbe Lektion von einem selbstbewussten Stinktier lernen, das in seinem auffallend schwarz-weiß gestreiften Fell durch ihren Gartenzaun geschlüpft war. Diese Tiere von der Größe eines Kaninchens schnüffeln im Tageslicht über den Boden und suchen im Gras und im herabgefallenenLaub nach Nahrung. Für ein wild lebendes Tier bewegen sie sich sehr langsam, als hätten sie ganz vergessen, dass sie auch Feinde haben. Wenn ein Hund es zu fassen versucht, schnappt das Stinktier nicht etwa mit seinen scharfen Fangzähnen zu und zerkratzt dem Hund auch nicht mit seinen messerscharfen Krallen die Haut. Stattdessen hebt es seinen langen Schwanz und besprüht ihn mit einem nach Moschus riechenden Mercaptan aus seinen Analdrüsen. Der Gestank hält tagelang vor. Es gibt Hundebesitzer, die behaupten, er ließe sich mit Tomatensaft aus dem Hundefell auswaschen. Ich weiß es nicht. Ich habe nie einen Hund besessen, und zu Stinktieren habe ich immer gebührenden Abstand gehalten.
    Als Raff schon etwas älter war und unsere beiden Familien eines Sommertags zum Mittagessen beieinandersaßen, stellte Raff mir eine interessante Frage über die Ameisenwespe.
    «Onkel Fred, wenn schöne Farben bedeuten, dass ein Insekt einen Stachel hat und man sich besser fernhalten sollte, warum haben dann Schmetterlinge keinen Stachel?»
    Es war nicht einfach, auf diese Frage rasch eine Antwort zu finden.
    «Schmetterlinge können wegfliegen, wenn man ihnen zu nahe kommt», war das Beste, was mir einfiel. «Ameisenwespen können nicht fliegen; um einen das Fürchten zu lehren, können sie nur stechen. Vögel können Schmetterlinge zwar fangen, aber dann lernen sie die Lektion eben anders. Einige Schmetterlingsarten schmecken furchtbar, manche sind sogar giftig, und die Vögel lernen, welche sie lieber in Ruhe lassen. So ist das mit einigen der schönsten Schmetterlinge, die du hier am Dead Owl Cove herumfliegen siehst.»
    Später in demselben Sommer, in dem ihm das Missgeschick mit der Ameisenwespe passierte, erschrak Raff beim Anblick eines Rotschulterbussards, der tief über seinen Kopf hinwegstrich und in seinem Krallen eine tote Feldmaus hielt. Eine Woche später stieß er auf eine Wasserschlange, die gerade einen Frosch verschlang. Diesmal lautete die Lektion, dass Tiere in der Natur sterben, und einige davon, damit andere leben können.
    Raff entdeckte, dass er, wenn er kleine verrottende Holzstücke umdrehte, mit dem Anblick von Hunderten Insekten und anderer winziger Geschöpfe belohnt wurde, die sich dort verbargen. Im hellen Licht erstarrten die einen. Die anderen krochen weg oder rannten los, um sich in der umliegenden Laubschicht zu verstecken. Landasseln oder Rollasseln, die kleinen Krustentierchen, und Diplopoda oder Tausendfüßer rollten sich zu gepanzerten Kugeln auf. Chilopoda oder Hundertfüßer krochen wie Miniaturschlangen in Sicherheit und hielten beim ersten Gegenstand an, der ihren Körper bedeckte. Keines der winzigen Tierchen griff Raff an; sie hatten alle Angst vor ihm.
    Nie erlag Raff dem «Igitt-Faktor», er wandte sich von nichts ab, nicht einmal von den schleimigsten Nacktschnecken. Ganz im Gegenteil, er wurde nie müde, wieder und wieder unter Rindenstücken und anderen Abfällen zu graben. Jeder Ausflug bot etwas Neues. Er lernte, dass die weitaus meisten Tiere der Natur sehr klein sind und unter der Erde leben. Er steckte Spinnen in Gläser und sah zu, wie sie Netze webten. Die verbreitetsten Bewohner der unterirdischen Wege, stellte er fest, waren Ameisen, die in verschiedenen Größen und Farben vorkamen. Ein paar davon steckte er in ein Glas mit

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