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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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nicht so lange vor, dass in der Kolonie Panik aufkommen konnte. Am anderen Ende des Spektrums gab es Gerüche, die sich langsam ausbreiteten und lange vorherrschten. Dazu gehörten die Pheromone der Trailhead-Königin. Noch während ihr Körper zu verwesen begann, blieben die Pheromone, die sie zeitlebens hergestellt hatte, in Geist und Körper ihrer Kolonie präsent.
    Und noch in anderer Weise war die Gegenwart der Königin in das Pheromon-Leben der Trailhead-Kolonie verwoben. Ihre Ausscheidungen waren mit anderen Substanzen abgemischt, so dass ein Geruch entstand, der für die Kolonie als Ganzes einzigartig war. Die Geruchsstoffe wurden in die wachsartige Kutikula aufgenommen, die den Körper jedes Koloniemitglieds bedeckte. Jede Ameisenkolonie hatte eine persönliche Duftnote, die allen ihren Mitgliedern gemeinsam war, die sie gut kannten und der sie ihr Leben lang absolut vertrauten. Wenn zwei Ameisen,egal welcher Herkunft, sich begegneten, rieben beide ihre Fühler aneinander. Die Bewegung ließ sich mit bloßem menschlichem Auge nicht verfolgen, aber das Gehirn beider Ameisen verarbeitete die Information praktisch ohne Zeitverlust. Trugen die beiden Ameisen denselben Geruch, so lautete die Botschaft:
Sie gehört zu meiner Kolonie und zu keiner anderen.
Dann liefen die beiden entweder ohne weitere Verzögerung weiter oder blieben stehen, um einander zu versorgen, oder sie tauschten Nahrung aus. Wenn aber ihre Gerüche auch nur leicht voneinander abwichen, so lautete die Botschaft:
Andere Kolonie, aufgepasst!
Wie fremde Hunde, die sich auf der Straße begegneten, blieben zwei Ameisen unterschiedlicher Herkunft stehen und prüften einander mit größerer Sorgfalt. Dann starteten sie entweder einen Angriff oder liefen voreinander weg.
    Keine Worte, keine Bewegungssignale kamen zum Einsatz, um die Stammesidentität einer Ameise festzustellen. Das war auch nicht nötig. Die Trailhead-Kolonie einte einzig und allein ihr gemeinsamer Geruch. Sollte der einmal verfliegen, so würde der Superorganismus schnell in einen Mob orientierungsloser Einzelorganismen zerfallen. Sie würden einander bekämpfen. Feinde würden sie zerstreuen. Räuber würden zu einer leicht verdienten Mahlzeit auf der Matte stehen.
    Die Trailhead-Königin lag da wie aufgebahrt. Ewig konnte das nicht so weitergehen. Schließlich wurden Teile ihres Körpers aufgefressen und die Überreste zum Ameisenfriedhof verbracht. Eine Woche lang sandten die Pheromone, die von den verbleibenden Fragmenten abgeleckt wurden, noch ihre existenzielle Botschaft aus. Danach zerstoben die Chemikalien allmählich, und schließlich erlosch die Botschaft.
    Ein paar chemische Signale traten schon früh auf, aber erst am dritten Tag nach ihrem Tod wurden die Pheromone der Königin allmählich von der Offensichtlichkeit ihres Todes überlagert. Ihr allgegenwärtiger Geruch wurde zweideutig, und damit auch die postumen Botschaften, die sie aussandte. Dass sie eine Leiche war, ließ sich dabei an nichts anderem erkennen als am Verwesungsgeruch. Der äußere Anblick und mangelnde Bewegung bedeuteten gar nichts. Die Königin hätte auf dem Rücken liegen können, die Beine steif in die Luft gereckt. Sie hätte jede Farbe annehmen können: rot, schwarz, gold-metallisch, jede beliebige Farbnuance oder Schattierung, egal. Vielmehr musste die Königin tot riechen, damit man sie als tot wahrnehmen konnte. Und das nicht mit den für die menschliche Nase abstoßenden Leichengerüchen – weder mit den übel riechenden Skatolen und Indolen, die den menschlichen Kot charakterisieren, noch mit den Trimethylaminen, die verdorbener Fisch so aufdringlich verströmt. Solche Stoffe, isoliert angetroffen, würden bei den Ameisen einen Alarm auslösen und sie abstoßen. Dasselbe galt für andere flüchtige Giftstoffe. Nur Ölsäure und ihr Ester, beides Zersetzungsprodukte von Fett, waren wirksame Todesboten. Für die menschliche Nase sind sie kaum oder gar nicht wahrnehmbar. Für eine Ameise aber bedeuten sie ‹tot›. Trafen sie an der Leiche einer Nestgefährtin auf diesen Geruch, so veranlasste er ihre Schwestern, sie hochzunehmen und wegzutragen.
    Innerhalb einer Woche brach die Leiche der Königin in der Trailhead-Kolonie unter dem beständigen Lecken allmählich entzwei. Nacheinander wurden die Fragmente, die ihre ölsäurehaltigen Komponenten verströmten, aus der Königinnenkammer entfernt. Ohne es zu wissen,nahmen die Ameisen Abschied von ihrer Mutter. Es gab keine Trauerfeier.

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