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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Königin ist strengstens verboten. Die Chancen, dass ein solcher Affront gegen die Autorität gelingt, sind äußerst gering. Es ist ein gefährliches Spiel, das nur wenige wagen. Beginnt eine Usurpatorin, ihre eigenen Eier zu legen und unter die einer gesunden Königin zu mischen, oder entwickelt sie auch nur die Fähigkeit dazu, so wird sie von ihren Nestgefährtinnen schikaniert. Ihre Schwestern weigern sich, ihr Nahrung auszuwürgen. Sie klettern auf sie und umstellen sie, ziehen an ihren Beinen und Fühlern. Manche setzen gar ihre Stacheln ein, um sie zu verkrüppeln oder zu töten, oder sie besprühen sie mit einem giftigen Sekret. Und sie fressen alle von ihr gelegten Eier auf. Nur wenn die Königin stirbt, erlischt das Tabu – und auch dann nur für wenige Individuen.
    Als das Tabu im Trailhead-Nest aufgehoben war, kam es zu einer zweiten Krise. Die Kandidatinnen auf den Königsthron begannen untereinander um die Vorherrschaft zu ringen. Sie kamen alle zu den Brutkammern und drängten sich dort auf den zur Eiablage benötigten Platz. Sie mühten sich, auf ihre Rivalinnen hinaufzuklettern. Die Sieger in diesem Wettkampf ergriffen Beine und Fühler ihrer Gegnerinnen und schleppten sie aus den Brutkammern hinaus. Anders als die Tausenden ihrer gewöhnlichen Nestgefährtinnen erkannten sie einander als Individuen. Mit der Zeit bildete sich eine Hierarchieheraus, vergleichbar der Hackordnung bei Hühnern und der Rangordnung im Wolfsrudel. Das Trailhead-Weibchen, das sich als Alpha-Kämpferin durchsetzte, das also all ihre Rivalinnen verjagen konnte, übernahm die Rolle der Reproduktion. Eiablage und Larvenwachstum setzten wieder ein, zwar in reduzierter, aber doch geordneter Weise. Die Krise war im Kampf beigelegt worden.
    Zwar konnte die Trailhead-Kolonie die Geschichte ihrer eigenen Spezies nicht begreifen, doch wie viel wusste sie über ihren gegenwärtigen Zustand? Wie konnte sie die richtigen Entscheidungen treffen, um ihr Überleben zu sichern? Eigentlich wusste die Trailhead-Kolonie ziemlich viel. Die Arbeiterinnen der Ameisen sind weit mehr als nur automatisierte Pünktchen, die auf dem Boden herumwuseln. Obwohl ihr Gehirn eine Million Mal kleiner ist als das des Menschen, kann eine Ameise im Labyrinthversuch doppelt so schnell lernen wie eine Laborratte und erinnert sich an die Wege zu bis zu fünf verschiedenen Zielen, wenn sie zur Futtersuche das Nest verlässt. Nach der Auskundschaftung eines unbekannten Gebiets kann eine Arbeiterin alle scheinbar zufälligen Kurven und Schlingen, die sie zurückgelegt hat, integrieren und in einer verblüffend geraden Linie zum Nest zurückkehren. Sie kann den besonderen Geruch der Kolonie, der sie angehört, erlernen und sich daran erinnern. Bei manchen Arten kann sie ihren eigenen individuellen Geruch in Duftspuren auf dem Boden wiedererkennen, zu denen sie mit ihren Pheromonen beigetragen hat.
    Gemessen an Insektenstandards war die Trailhead-Kolonie, wenn man die Lernfähigkeit und das Denken all ihrer Arbeiterinnen zusammennahm, hochintelligent. Nun, da die einende Kraft ihrer Königin fehlte und dasPopulationswachstum stark zurückging, musste sie ihre gesamte Gruppenintelligenz einsetzen, um ihr Gleichgewicht wiederherzustellen.
    Als eine der Soldaten-Königinnen ihre Rivalinnen besiegt hatte und zur neuen Königin wurde, schien die Erholung der Kolonie auf bestem Wege. Es kam zu einer massiven Eiablage. Larven füllten wieder die leeren Brutkammern. Ihr Geruch und die Hungersignale vermischten sich mit den Pheromonen der neuen Soldaten-Königin und verbreiteten sich im Nest. Es gab wieder eine Macht. Die Arbeiterinnen fanden zu neuer Energie. Es machten sich wieder mehr Arbeiterinnen auf die Futtersuche.
    Eines der Individuen, das maßgeblich zur Wiederherstellung der Ordnung beitrug, war eine Elitearbeiterin, die in ihren letzten Tagen am Hof der Königin gedient hatte. Etwa zehn Prozent der Arbeiterinnen erreichten diesen Status, in dem sie ihr Leben lang verblieben. Sie kamen alle von der Nestarbeit; keine von ihnen gehörte der Soldatenkaste an, die auf den Kampf spezialisiert war und nur aktiv wurde, wenn die Kolonie bedroht wurde. Die Eliten waren kräftig und bewegten sich energisch. Sie regten die meisten Arbeitsschritte an. Sie arbeiteten härter und ausdauernder, und normalerweise hörten sie nicht auf, bevor eine Arbeit erledigt war. Andere Koloniemitglieder wurden rekrutiert, ihnen bei den begonnenen Aufgaben beizuspringen. Nicht nur standen sie

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