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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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zunehmend ersetzten sie auch ihr Gehirn. Gemeinsam funktionierten sie als ein gut organisiertes Ganzes. Gegenüber den anderen waren sie altruistisch eingestellt, und sie teilten die Arbeit ohne Rücksicht auf ihr eigenes Wohlergehen. Die Trailhead-Kolonie ähnelte mit der Zeit einem großen, formlosen Organismus. In einem Wort, sie wurde ein Superorganismus.
    Als die Kolonie zwei Jahre nach dem Hochzeitsflug der Königin ihre volle Reife erlangte, beherbergte sie über zehntausend Arbeiterinnen. Im folgenden Jahr konnte sie dann jungfräuliche Königinnen und Männchen aufziehen und damit neue Ablegerstaaten gründen. Inzwischen legte die Königin durchschnittlich alle fünfzehn Minuten ein Ei. Sie war schwer und starr, lag in der Königinnenkammer auf dem Boden des unterirdischen Nests eineinhalb Meter, also vierhundert Ameisenlängen, unter der Erdoberfläche. Nach menschlichem Maßstab entsprach die Ameisenstadt zweihundert Untergeschossen. Der Hügel aus der ausgehöhlten Erde, der das Nest überragte, bildete oberirdisch weitere fünfzig Stockwerke.
    Wenn die Königin vielleicht auch nicht die Führerin dieser Miniatur-Zivilisation war, so war sie doch der Urquell all ihrer Energie und ihres Wachstums. Von ihr hing wesentlich ab, ob die Kolonie Erfolg hatte oder scheiterte. Das metronomisch regelmäßige Ausscheiden befruchteter Eier aus ihren zwanzig Ovarien war der Herzschlag der Kolonie. Dass es damit stetig kraftvoll weiterging, war letztlich das alles beherrschende Ziel jeglicher Arbeitim Staat. Dass die Arbeiterinnen so umsichtig das labyrinthartige Nest gebaut hatten, dass sie bereit waren, auf der täglichen auswärtigen Futtersuche ihr Leben zu riskieren, dass sie sich selbstmörderisch der Verteidigung am Nesteingang widmeten, all diese Opfer brachten sie für sie dar und für die Erschaffung weiterer altruistischer Arbeiterinnen wie sie selbst.
    Eine Arbeiterin oder eintausend konnten sterben, und die Kolonie würde weiterleben, würde sich nach Bedarf regenerieren. Ein Ausfall der Königin aber ließ sich nicht korrigieren und würde ihrer aller Schicksal besiegeln.
    Und zu genau dieser Katastrophe war es nun nach weiteren zwanzig Jahren gekommen. Der Tod der Königin war die größte Herausforderung, der die Kolonie seit den Tagen ihrer Gründung hatte trotzen müssen. Freilich konnten die Arbeiterinnen keine Initiative ergreifen, bis sie nicht sicher wussten, dass die Königin tot war. Sie wussten, dass irgendetwas nicht stimmte, dass sich eine namenlose Bedrohung über sie gelegt hatte, aber das Ausmaß ihres Problems blieb ihnen verborgen. Die Anzeichen dafür waren nicht stark genug. So werkelte denn die Trailhead-Kolonie in der gewohnten präzisen Geschäftigkeit eine ganze Weile weiter. Wie ein großes Schiff auf hoher See ließ sie sich nicht einfach von den Untiefen abdrehen, auf die sie zusteuerte.
    Der Grund für diese fortgesetzte Eigendynamik der Trailhead-Kolonie lag in der Art, in der Ameisen kommunizieren. Da sie den Großteil ihres Lebens in der unterirdischen Dunkelheit verbringen, können sie nicht visuell oder akustisch kommunizieren, sondern müssen dafür chemische Signale nutzen. Der Mensch denkt in Klang und Bild. Ameisen sind gezwungen, sich auf Pheromonezu verlassen, sie denken also nur in Geschmack und Geruch. Kein Mensch kann die chemischen Wahrnehmungen nachvollziehen, die das Hirn einer Ameisenarbeiterin bevölkern. Wie haben keinen Begriff für die Einheiten, die sie erfasst, oder die Farben, die Anteile und die Mischungsverhältnisse in ihren Gedanken. Doch während die Trailhead-Kolonie für die menschliche Wahrnehmung ohne fremde Hilfe vielleicht stumm blieb, dröhnte sie nur so von pheromonalem Geschwätz zwischen den Ameisen.
    Die Trailhead-Kolonie kommunizierte über etwa ein Dutzend chemischer Signale. Das Gefolge von Arbeiterinnen, die sich um ihre tote Mutter drängten, war durch mehrere dieser Pheromone, die noch immer von ihrem Körper ausgingen, an sie gebunden. In menschliche Stimmen übersetzt, flüsterte sie eine geisterhafte Anweisung:
Kommt her, versammelt euch um mich, bleibt nahe bei mir!
    Lüstern leckten die Anwesenden ihren Körper mit ihren polsterförmigen Zungen. Eifrig reinigten sie sie weiter und pflückten Substanzen von ihr ab, die sie anderen außerhalb des Gefolges weiterreichten. Die Pheromone, die ihre sorgfältige Pflege veranlassten, sprachen durch Geschmack und Geruch:
Wascht mich, esst die Substanzen, die ihr von meinem Körper

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