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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Stattdessen wanderten die Arbeiterinnen, die die Körperteile trugen, allein durch die Gänge des Nests bis zum Trailhead-Friedhof. Dieser besondere Ort war nicht durch irgendwelche zeremoniellen Embleme markiert. Er hatte keine besondere Form und enthielt auch keinerlei Denkmäler, nicht einmal für die Königin. Es war einfach nur eine Kammer am äußeren Rand des unterirdischen Nests. Hier entsorgten die Ameisen jede Art von Abfällen, etwa abgeworfene Kokons frisch geschlüpfter Ameisen, nicht essbare Beuteteile und verstorbene Koloniemitglieder.
    Als die Leichenträgerinnen in die Nähe der Abfallkammer kamen, übergaben sie ihre Last den Friedhofsarbeiterinnen. Diese Ameisen waren darauf spezialisiert, die wachsenden Abfallhaufen ständig neu auszurichten. Sie blieben nahe an ihrer Arbeitsstelle und wurden von ihren Nestgefährtinnen meist gemieden.
    In der Friedhofsarbeit genauso wie bei allen anderen Aktivitäten organisierte die Trailhead-Kolonie die Arbeit über altruistische Regeln der Arbeitsteilung. Alles, was die Ameisen taten, wurde in gewisser Hinsicht von aufopferndem Altruismus bestimmt. Als Erstes hatten die Arbeiterinnen die Möglichkeit der Fortpflanzung aufgegeben, zumindest solange die Königin am Leben und bei Gesundheit war. Sie akzeptierten ihren Dienst bei der Futtersuche, als Soldatin und bei anderen riskanten Unternehmungen, die sie ständig in Gefahr brachten, häufig sogar so sehr, dass ihnen ein früher Tod sicher war. Die Dominanz der Trailhead-Kolonie über ihre individuellen Mitglieder war total. Das Wohlergehen des Superorganismus war absolut vorrangig, und eine individuelle Arbeiterinwar in ihrem Lebensweg so vorprogrammiert, dass sie sich den Bedürfnissen des Superorganismus unterordnete. Starb eine Arbeiterin, so wurde die Kolonie dadurch in einem messbaren, aber relativ irrelevanten Ausmaß geschwächt. Das Defizit ließ sich schnell ausgleichen, indem man in der Brutpflege eine andere Arbeiterin heranzog. Verhielt sich dagegen eine Arbeiterin eigennützig, indem sie etwa über längere Zeit ihres Lebens mehr Ressourcen verbrauchte, als sie beitrug, so schwächte sie damit die Kolonie sehr viel stärker, als wenn sie nur so anständig wäre, einfach zu gehen oder zu sterben.
    Anstand bedeutete für eine arbeitsunfähige Ameise, die Kolonie zu verlassen und keinen Ärger mehr zu machen. Welche Opferbereitschaft den Erfolg der Trailhead-Kolonie erst ermöglichte, ließ sich an jeder Aufgabe ablesen, die die gesamte Arbeiterschaft unter allen Lebensumständen vollbrachte. Kranke und Verletzte wurden nicht versorgt. Sie gingen solcher Pflege sogar aus dem Weg und zogen von selbst in die weiter außen gelegenen Nestkammern. Arbeitsunfähige stellten oftmals die aggressivsten Kämpferinnen der Kolonie. Und sterbende Arbeiterinnen verließen das Nest häufig ganz und verhinderten damit die Ausbreitung infektiöser Krankheiten.
    Auch ältere Ameisen, die sich dem Ende ihrer natürlichen Lebensspanne näherten, emigrierten an den Nestrand. Dort kümmerten sie sich häufig um die Futtersuche, zu der sie das Nest verließen und sich damit sehr viel stärker dem Risiko aussetzten, von Feinden überwältigt zu werden. Bei der Nestverteidigung waren die älteren Ameisen die todesmutigsten Angreifer. Sie gehorchten damit einer einfachen Wahrheit, die unsere beiden Spezies voneinander unterscheidet: Während der Menschseine jungen Männer in den Krieg schickt, senden die Ameisen ihre alten Damen aus.
    Die Königin war die Einzige der Kolonie gewesen, die sich fortgepflanzt hatte – die Mutter ihrer sämtlichen Bewohner und der neuen Kolonien, die sie hatten hervorbringen können. Alle Opfer, die die Arbeiterinnen erbrachten, sollten ihr Leben schützen und ihre Fruchtbarkeit stärken. Ob die Trailhead-Kolonie nun weiterleben oder sterben würde, hing davon ab, ob sie die Königin-Mutter ersetzen konnte. Das erforderte höchstes Geschick bei der Bündelung aller Kräfte, bis eine neue Königin zur Stelle war.

20

    F ür den Moment schien die alte Kolonie verloren. Wachse oder stirb, lautete das eherne Gesetz, dem alles gehorchte. Positive oder negative Bevölkerungsschwankungen, mehr oder weniger Mitglieder, sind für jede Ameisenkolonie eine Frage von Leben und Tod. Stetiges Bevölkerungswachstum und ständig steigende Produktivität in den Brutkammern sind die Gewinnvorgaben des Superorganismus. Das soziale und das persönliche Leben dienen nur diesem zentralen Ziel. Der Grund dafür ist

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