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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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hinnehmbar.
    Inzwischen hatten die Trailheader ihr gesamtes Territorium östlich ihres Nestes in Richtung der Streamsider aufgegeben. Durchaus denkbar war, dass die Streamsider sich mit diesen Eroberungen begnügten. Sie hatten einen bedeutenden Sieg errungen, ohne dass auf beiden Seiten auch nur ein Leben geopfert worden war. Wenn sie die Turniere jetzt abbrachen, konnte zwischen den beiden Einheiten ein langer Waffenstillstand bestehen – gleichsam eine Pax Formicana.
    Ehrbarer Frieden freilich war nicht das Prinzip, nach dem die Ameisen vom Nokobee funktionierten. Nach drei Wochen der Vorteilsnahme, die schließlich ihren Höhepunkt fand, als die Turniere direkt am Fuß des Trailhead-Hügels abgehalten wurden, schalteten die Tänzerinnen der Streamsider plötzlich um auf einen umfassendenAngriff auf die Trailhead-Kolonie. Schluss mit der Propaganda, Schluss mit dem Bluff.
    Der Überfall begann als ungeplante Kettenreaktion bei den Streamside-Vertreterinnen. Sie waren mit den Tagen immer aufgeregter geworden. Offenbar näherten sie sich der Grenze, die feindseliges Imponiergehabe vom offenen Kampf trennte. Sie umkreisten die Trailheader immer enger und stießen sie häufiger und kräftiger an.
    Zu Beginn eines Turniers schließlich, als die Trailheader auf einer Stelle nur gut einen Meter von ihrem Nest entfernt zusammengedrängt worden waren, übertrat eine Arbeiterin der Streamsider – die Elite-Kundschafterin und altgediente Turnierteilnehmerin – die Grenze zur Aggressivität und begann auf eigene Faust den Krieg. Sie griff die erste Trailhead-Ameise an, die ihr über den Weg lief, und besprühte sie mit einem Gemisch aus Alarmpheromonen und giftigen Ausscheidungen. Dieser Geruch rüttelte die nächststehenden Nestgefährtinnen wach. Auch sie übertraten die Aggressionsgrenze und gingen ihrerseits individuell zum Angriff über. Aus zwei kämpfenden Arbeiterinnen wurden kurzerhand drei, aus dreien wurden vier, und so weiter – die Gewalt eskalierte exponentiell durch die Reihen der versammelten Streamsider. Einige Trailheader brachen schnell aus der Schlacht aus und rasten in ihr Nest zurück, um Verstärkung zu rekrutieren. Andere reagierten auf den Angriff, indem sie ihre Stellung behaupteten und sich aktiv verteidigten.
    Bald schon wurde die Schlacht zu einem wilden, tödlichen Handgemenge. Die Trailheader waren zu schwach, um ihre Stellung zu halten. Streamside-Kämpferinnen durchbrachen die löchrig werdenden Reihen der Verteidigung und griffen jede Ameise an, derer sie habhaftwurden. Alle Tiere auf beiden Seiten beendeten nun den Turniermodus. Sie ließen ihr Abdomen auf Normalgröße schrumpfen und entspannten ihre stelzenartig steifen Beine. Stattdessen kletterten die Kämpfer beider Seiten auf ihre Gegner hinauf, griffen mit ihren gezähnten Kiefern nach Beinen und Fühlern, zerbissen und zerstachen jeden erreichbaren verletzlichen Körperteil. Wenn zwei oder mehr Streamsider gleichzeitig dieselbe Trailheader-Kämpferin zu fassen bekamen, spreizten sie ihr die Glieder ab, und andere rückten auf und versetzten ihrem Körper einen tödlichen Biss oder Stich. Bald schon übersäten tote und sterbende Arbeiterinnen beider Seiten das Schlachtfeld. Die meisten Opfer waren Trailheader, unter ihnen auch die Elite-Kundschafterin und einstige Hofdame, die totgestochen und verstümmelt wurde.
    Immer mehr der überlebenden Trailheader gaben den Kampf auf und zogen sich zum Nesteingang zurück. Diejenigen, die noch zögerten, wurden überrannt und getötet wie Beutetiere.
    Und das waren sie auch. Ihre Körper wurden behandelt wie die überwältigter Grashüpfer und Raupen. Nach der Schlacht würden die Toten und Verletzten eingesammelt und von den Eroberern aufgefressen werden. Der Kannibalismus war mehr als nur eine Folge des Sieges. Der Eroberungszug wurde zu einer Expedition zur Futtersuche.
    Im Lauf einer halben Stunde brach die Verteidigung der Trailhead-Kolonie vollständig zusammen. Ein paar Überlebende drückten sich an ihren Verfolgern vorbei und rannten zwischen ihrem Nest und dem Hauptschlachtfeld hin und her, irgendwie versuchten sie das Ausmaß der Katastrophe zu bestimmen. Schließlich zog sich auch die Letzte von ihnen ganz in das Nest zurück.In der Nähe des Eingangs wandten sich manche um und kämpften doch noch weiter, so dass die unmittelbare Umgebung des Eingangs frei von Feinden blieb. Gemeinsam schleppten sie herumliegende Erdklümpchen, Holzkohle und totes Laub heran und schichteten sie

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