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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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dass ihre gesamte Körperoberfläche zu einem einzigen Schild wurde.
    Auch die gewöhnlichen Trailhead-Arbeiterinnen waren zwar wie geschaffen zur Arbeit, taugten aber ebenfalls für den Kampf. Sie dienten dann als eine Art leichte Infanterie. Da ihr Exoskelett sehr viel dünner war als das der Hopliten, vermieden sie direkte Nahkämpfe. Stattdessen nutzen sie die Geschmeidigkeit und Agilität ihres biegsamen Körpers, indem sie um ihre Feinde herumliefen, hin- und herschossen, alle erreichbaren Beine oder Fühler packten, festhielten und damit den Gegner genügendbehinderten, dass eine Nestgefährtin aufschließen und einen anderen Körperteil ergreifen konnte. Wenn der Gegner schließlich mit ausgestreckten Gliedern fixiert war, kamen andere und bissen, stachen oder besprühten ihn mit Gift. Solche Schwarmangriffe, bei denen ein ganzer Trupp von Kämpferinnen gleichzeitig einen überlegenen Gegner niederrennt, entsprechen ganz der Taktik eines Wolfsrudels beim Einkreisen eines Elchs oder der einer Infanterieeinheit, die eine feindliche Stellung überrennt.
    Dies war die Kampfkraft der ursprünglich zehntausend, die das Nest am Trailhead gegen alle Feinde verteidigt hatten. Jetzt begann die Zahl voll einsatzfähiger Erwachsener abzunehmen, und die Überlebenden wurden langsam alt.
    Der Niedergang der Trailhead-Kolonie wurde von ihrem direktesten Nachbarn, der Streamside-Kolonie, genau beobachtet. Dieser jüngere und nunmehr stärkere Superorganismus hielt sich bereit, um aus dem Schaden der Nachbarn Nutzen zu ziehen.
    Eines frühen Morgens verließ eine Elitearbeiterin der Streamside-Kolonie, gefolgt von einem Trupp ihrer Gefährtinnen, ihr Nest, um die Stärke der Trailhead-Kolonie auszumachen. Die exakte Erfassung der feindlichen Stärke war nicht ganz einfach. Die beiden Nester lagen etwa zweitausend Ameisenlängen oder knapp zwanzig Meter auseinander. Konnte eine Kundschafterin den Weg auf einer glatten Oberfläche in gerader Linie zurücklegen, brauchte sie dafür weniger als sechs Minuten. Der gerade Weg war aber nicht gangbar, weil das Terrain mit Hindernissen übersät war, die für einen Menschen kaum wahrnehmbar, für eine zehn Millimeter lange Ameiseaber gewaltig waren. In der Miniaturwelt der Ameisen waren Grasbüschel wie dichte Gehölze aus Bäumen und Büschen und tote Blätter und Zweige wie umgekippte Balken. Eine Sandfläche, für Menschen vollkommen eben, war für die Ameisen ein Irrgarten aus Felsbrocken, und Kieselsteine waren riesige Findlinge. Regen war lebensbedrohlich. Ein Tropfen, der eine Ameise direkt traf, hatte auf Menschen übertragen die Druckkraft eines Feuerwehrschlauchs. Ein Rinnsal Regenwasser, das sich durch einen Riss im Boden schlängelte, entsprach einer Sturzflut durch einen Wüstenwadi.
    Als die Eliteameise zu ihrer Reise aufbrach, speicherte sie die Route mehr oder weniger genau ab. Sie war schon zuvor auf dem Territorium am Trailhead gewesen und erinnerte sich an den Weg dorthin. Im Kopf hatte sie einen Kompass, die Sonne war ihr Leitstern. Das hätte für eine Ameise natürlich zu einer Quelle gewaltiger Irrtümer werden können, weil die Sonne ja über den Himmel wandert und der richtige Winkel sich damit konstant verändert. Doch jede Ameise verfügt im Kopf auch über eine biologische Uhr, die nach einem vollständigen 24-Stunden-Rhythmus geeicht ist und mit einer Präzision tickt, die ein menschliches Gehirn ohne Hilfsmittel bei weitem übertrifft. Mit Blick auf ihre Uhr veränderte die Kundschafterameise beständig den Winkel zur Sonne, der einzuhalten war, damit sie auf ihrer Spur blieb.
    Der Weg der Sonne selbst ist in Raum und Zeit vollkommen zuverlässig. Am Nokobee zeichnete er einen geometrisch perfekten Bogen über den Himmel, erhob sich am östlichen Seeufer zwischen den Kiefern, zog direkt über den Ameisenhügeln am Dead Owl Cove hinweg und verschwand schließlich westlich in den dahinterliegendenWald. Der Richtungswinkel aber, den die Ameisen ablasen, war anders als der Sonnenweg keineswegs perfekt. Die Kundschafterameise hielt also gelegentlich an und blickte um sich, und das an auffälligen Wegpunkten, die sie sich bei früheren Ausflügen gemerkt hatte. Solche Stationen waren ein doppelter Kiefernsämling, eine kreisrunde Öffnung im Kronendach, oder ein dunkler Schatten unter einem Stechpalmengestrüpp.
    Außerdem gab es den Geruch des Geländes, an den sich die Kundschafterin dank chemischer Markierungen erinnerte, an die sie bei früheren Reisen

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