Ameisenroman
ab, der zu steil war, als dass er Nester potenzieller Rivalen beherbergen konnte. Die Streamsider hatten diese Stelle nicht zu ihrem eigenenSchutz ausgewählt. Sie hatten nur Glück gehabt, dass ihre Königin-Mutter ausgerechnet hier gelandet war.
Als die Kundschafterinnen der Streamsider sich auf dem Turnierplatz sammelten, trafen sich ihre Gegner vom Trailhead gerade in nahezu gleich großer Anzahl. Manche waren als Wächter auf Kieselsteine geklettert. Die ersten Kundschafterinnen beider Seiten, die auf den Feind gestoßen waren, liefen nach Hause, um Verstärkung zu rekrutieren. Sie legten Duftspuren, mit denen sie ihre Nestgefährtinnen stimulierten und führten, und außerdem trugen sie gefälschte Abstriche des feindlichen Geruchs an ihrer Körperoberfläche, um den Gegner zu identifizieren. Innerhalb einer Stunde drehten sich Hunderte Ameisen aus beiden Kolonien umeinander. Die ursprünglichen Kundschafterinnen, die alle relativ klein und dünn waren, wurden schon bald von Kontingenten stabiler gebauter Soldatinnen verstärkt.
Die gegnerischen Streitkräfte achteten darauf, dass es nicht zum Kampf kam. Ihre Strategie lautete ganz anders: Die Darbietung entsprach dem Konkurrenzkampf von Militärparaden menschlicher Armeen. Sie wollten ihre Leistungsfähigkeit vor dem Feind zur Schau stellen und ihm imponieren.
Als das Turnier begann, stellten sich die einzelnen Teilnehmer so groß dar wie möglich. Sie ließen ihr Abdomen anschwellen, indem sie Flüssigkeit hineinpumpten. Sie streckten stelzenartig die Beine durch und stolzierten so um jede feindliche Arbeiterin herum, die sie fanden – manchmal rempelten sie sie auch an. Wieder andere kletterten auf Steine und posierten dort, was sie noch größer wirken ließ. Nie drohten sie mit einem Angriff. Ihr Imponiergehabe sollte nur die gegnerische Seite überzeugen,dass ihre Kolonie über sehr zahlreiche Soldaten verfügte. Einige kleine Arbeiterinnen dienten als Späher, sie waren selbst nicht an der Zurschaustellung beteiligt, sondern bewegten sich durch die Menge mitwirkender Arbeiterinnen, um einzuschätzen, wie groß die Soldatentrupps waren. Je größer die Streitmacht des Gegners, desto mehr bemühten sich die Späher, weitere Mitstreiterinnen zum Turnier zu rufen. Eine Schwäche in ihren Rekrutierungsbemühungen signalisierte der anderen Seite die Schwäche der Kolonie. Und das war ein unfreiwillig motivierender Hinweis an die gegnerische Kolonie.
Bereits zu Lebzeiten der Trailhead-Königin und in noch stärkerem Maße seit ihrem Tod war der militärische Pomp der Trailhead-Kolonie sichtbar eingebrochen. Innerhalb einer Woche folgten die Trailheader schrittweise den Signalen der Elite-Kundschafterin und mehrerer weiterer Nestgefährtinnen und zogen sich von der ursprünglichen Territorialgrenze zurück. Sie versuchten, Turniere näher an ihrem Nest abzuhalten, wohin sie ihre Soldaten sowie die Scheinsoldaten unter den kleineren Ameisen, die die Streitmacht verstärkten, schneller einberufen konnten. Von dieser Taktik aber ließen sich die Streamside-Kundschafterin und ihre Frontgefährtinnen nicht täuschen; sie erhöhten den Druck und brachten sich immer auffälliger in Stellung. Den Trailheadern blieb nichts anderes übrig als der Rückzug, jeden Tag ein bisschen; gleichzeitig überließen sie den Gegnern damit Teile ihrer Futtergründe.
Dieser Rückzug war freilich für sich genommen noch keine Niederlage. Es bestand eine gewisse Chance, dass die Trailhead-Kolonie sogar noch einen Sieg herausschlug oder wenigstens ein Unentschieden. Das lag daran, dassder Turnierplatz immer näher an ihr eigenes Nest rückte, so dass die Verteidiger ihn schneller erreichen konnten. Innerhalb von Minuten war die jeweils nötige Verstärkung zur Stelle. Die Streamsider hingegen mussten einen entsprechenden Nachteil in Kauf nehmen: Zur Fortsetzung der Turniere mussten sie beinahe die gesamte Distanz zwischen den beiden Nestern zurücklegen. Und wenn die Kommunikationswege so lang waren, machte das die Anpassungen der Streamside-Streitkräfte zwangsläufig schwerfälliger und ungenauer. Durch ihren langsamen Rückzug vermochten die schwächeren Trailheader fast schon einen Ausgleich zu erreichen. So konnten sie ihre Gegner möglicherweise lange Zeit in Schach halten, vielleicht sogar bis zum Ende der Vegetationsphase. Dass sie dafür mit dem Verlust eines Teils ihres Territoriums bezahlten, war für eine Kolonie mit abnehmender Population durchaus
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