Ameisenroman
geraten war. Mit dieser Fähigkeit unterscheidet sie sich vom Menschen in einem Ausmaß, wie es sich größer kaum vorstellen lässt. Die Kundschafterin beschnüffelte den Boden ständig und sehr genau, da er im Abstand von nur zwei Millimetern unter ihrem Körper vorbeizog. Ihre Nase war das Außensegment ihrer beiden Fühler. Diese hypersensiblen Werkzeuge drehte sie nach unten, so dass sie den Boden fast berührten, und wischte damit seitwärts hin und her. Die Gerüche, die sie beim Laufen wahrnahm, waren in ihrer Mischung, Intensität und ihrer Abstufung einzigartig und vermittelten ihr detaillierte Informationen über ihren Standort und ihre Wegrichtung. Sie waren eine Kombination aus Naturführer und topografischer Landkarte.
Da drüben sandte eine Kiefernnadel ihren scharfen Geruch aus, der sich mit dem Duft des Humus unter den Futtergründen der Kolonie mischte. Ein Schwall einer ganz bestimmten Mischung grüßte von hier, ein andersartiger Gegenschwall von da. Der vorherrschende Hintergrund wurde gelegentlich von einem plötzlich radikal anderen Geruch überdeckt – das war schnell vorbei, blieb aber eine Zeitlang im Gedächtnis haften.
Die olfaktorische Welt der laufenden Streamside-Ameise enthielt sehr viel mehr als eine unsichtbare Straßenkarte. Von unten und von allen Seiten über ihr wurde sie geradezu bombardiert von den Gerüchen der Organismen, die den Boden bewohnten – und das in einer Dichte, dass sie einen Großteil der physischen Bodenmasse ausmachten. Da waren stellenweise endlos wuchernde Zellfäden von Pilzen und Bakterien. Jeder davon gab seinen Geruchsstempel ab. Da waren die aufsteigenden Gerüche von Tieren, die so groß waren wie die Ameise oder kleiner, auf jedem Quadratmeter drängte sich davon eine Viertelmillion. Insekten, Spinnen, Rollasseln, Nematoden oder Fadenwürmer und andere zahlenmäßig überlegene Wirbellose. Eine Spur, die die tastenden Fühler in diesem Gemisch wahrnahmen, konnte eine potenzielle Beute bedeuten, eine andere eine lauernde Spinne oder einen anderen Jäger in einem Hinterhalt.
Der menschliche Verstand kann sich das Lärmen der chemischen Reize nicht vorstellen, mit deren Hilfe sich eine laufende Ameise zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens orientiert – und dank derer sie überlebt. Und er kann auch nicht begreifen, wie übermächtig die ständige Todesgefahr ist, der sie geschickt ausweichen muss, und das unverzüglich zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens.
Die Streamside-Kundschafterin eilte durch diesen olfaktorischen Kosmos, ohne sich ablenken zu lassen. Ihr Ziel lag in Richtung des feindlichen Nests, aber nicht im Nest selbst. Sie strebte bewusst einer ebenen, offenen Stelle auf halbem Weg dorthin zu. Als sie dort angekommen war, mischte sich die Kundschafterin unter eine Gruppe Nestgefährtinnen, die schon zuvor eingetroffen waren, und – für Ameisen etwas unglaublich Seltenes – gemeinsam mischtensie sich auch ungezwungen unter Kundschafterinnen der Trailhead-Kolonie. Unter diesen feindlichen Ameisen befand sich auch die eben eingetroffene Eliteameise, die bisher zum Hof der Trailhead-Königin gehört hatte.
Einen kurzen Moment lang schienen die Vertreterinnen der beiden Kolonien miteinander zu
tanzen.
Das aber geschah keineswegs nach menschlichem Verständnis. Sie waren nämlich hier, um ein Turnier zwischen ihren Kolonien auszutragen. Die Kundschafterinnen sammelten Informationen, mittels derer sie die Stärke der gegnerischen Trailhead-Kolonie abschätzten. Sie konnten diese Information nutzen und zugleich dem Feind ihre eigene Stärke vorführen, ohne dabei Tod oder Verletzung zu riskieren. Der Tanz war also eigentlich kein Tanz, sondern ein höchst ritualisierter kommunikativer Test, der der Sicherheit beider Kolonien diente.
Zum Zeitpunkt des heutigen Turniers befand sich die Streamside-Kolonie am Höhepunkt ihrer Lebenskraft als Superorganismus. Sie war stark genug, um es mit jeder Nachbarkolonie aufzunehmen, und ganz besonders mit der schwächelnden Trailhead-Kolonie. Die Streamside-Königin war erst sechs Jahre alt, in menschlicher Lebenserwartung gerechnet entsprach das 30 Jahren. Sie war in den besten Jahren, strotzte von Eiern, und sie dampfte nur so von süß riechenden königlichen Pheromonen. Das Nest ihrer Kolonie stand auf festem, fruchtbarem Boden am Rand eines unberührten Stücks sommergrünen Laubholzgebüschs. Ein nahe gelegener Bach im Wald schützte das Nest auf der einen Seite. Auf der anderen Seite fiel ein winziger Graben
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