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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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sich ab und rannten den Hauptgang hinunter und in die Seitengänge und Kammern tief unten im Nest.
    Die Soldatinnen der Trailheader dagegen zogen sich nicht zurück. Vielmehr gruppierten sie sich um den Nesteingangin einem engen Kreis, die Köpfe nach außen gewandt – sie waren bereit, bis zur letzten Ameise zu kämpfen. Ihre zuschnappenden Kiefer bremsten die Angreifer bis in die späten Nachmittagsstunden. Zunächst schien es so, als sei es ihnen gelungen, das Blatt zu wenden. Bei beginnender Dämmerung folgten die Streamsider der biologischen Uhr, der ihre gesamte Spezies stets und sogar im Krieg gehorchte, wandten sich ab und kehrten heim.
    Allerdings war dies kein Rückzug der Streamsider – und genauso wenig ein Sieg für die Trailheader. In der Verwirrung, die in dieser Nacht herrschte, spürte, ja wusste die Trailhead-Kolonie, dass es äußerst schlecht um sie stand. Sie hatten keinen Begriff von der Niederlage, aber das nur, weil sie noch nie eine erlebt hatten. Das Nestinnere strotzte nur so vom Duft der Alarm- und Rekrutierungspheromone, die die beiden Gegner während des versuchten Einfalls von Streamsidern am Eingang versprüht hatten. Die Kämpfer trugen den fremden Körpergeruch der Invasoren am Leib. Sie konnten gleichsam die Kriegsflaggen der Gegner sehen und hörten ein ständiges Heulen der Kriegssirenen.
    Die gesamte Kolonie stand am Rande der Panik. Aufgeregte Ameisen rannten in den Kammern und Gängen des Nests hin und her, ohne etwas Bestimmtes vorzuhaben. Die Kolonie war sich noch nicht dessen bewusst, dass ihre Stimmung und ihr Verhalten auf das bevor stehende Ende hinwies, aber instinktiv bereiteten sie sich für ein letztes Manöver vor, eine abschließende, fast schon selbstmörderische Reaktion, dank derer vielleicht einige ihrer Mitglieder gerettet werden konnten. Die letzte Option, die ihnen noch blieb, war die offene Flucht nach draußen, jede Ameise für sich allein. Miteinigem Glück konnten sich dann ein paar Überlebende anderswo wieder vereinigen und eine neue Kolonie gründen. Allerdings brauchten sie dazu natürlich eine echte Königin – sie aber hatten lediglich ihre unzulängliche Soldaten-Königin.
    In den verzweifelten Stunden erinnerten sich die ältesten Arbeiterinnen der Trailheader an ein anderes ungewöhnliches Ereignis, zu dem es im vergangenen Sommer gekommen war, als sie noch jung und die meisten ihrer heutigen Nestgefährtinnen noch gar nicht geboren waren. An diesem Tag schien die Sonne. Die Trailhead-Königin war noch stark, und wohlgenährte Larven füllten die Böden und Wände der Brutkammern. Eine Vielzahl von Arbeiterinnen waren zur Futtersuche ausgeschwärmt, darunter auch solche, die gerade alt genug waren, von ihren Pflichten bei der Brutpflege abzusehen und ihren ersten Gang nach draußen zu unternehmen.
    Als die Sonne hoch am wolkenlosen Himmel stand, wurde sie plötzlich verdunkelt. Dann kehrte sie genauso plötzlich wieder, verschwand erneut, und das immer wieder eine ganze Weile. Mit ihrem trüben Ameisenblick sahen die Arbeiterinnen, die auf Futtersuche waren, dass gigantische längliche Gegenstände diese Schatten warfen. Sie sahen aus wie Bäume, die in den Himmel ragten. Aber sie bewegten sich! Dann drangen von irgendwo da oben seltsame, laute Geräusche, die ganz anders klangen als die von Vögeln, Eichhörnchen oder zirpenden Insekten. Es waren zischende und grunzende Laute, sie vermischten sich, sie gingen hin und zurück, wurden lauter und leiser. Auch merkwürdige Gerüche drangen von oben herunter. Einen derartigen Tumult hatten selbst die Ältesten der Trailheader noch nie erlebt. Er war heftigerals jeder Wind- oder Regensturm, den sie mitgemacht hatten. Die meisten Arbeiterinnen, die draußen unterwegs waren, flüchteten ins Nest. Ein paar verfolgten die wandelnden Bäume, versuchten auf sie zu klettern und sie anzugreifen.
    Der Besuch – es war eine Menschenfamilie, die achtlos neben dem Nest der Trailheader ihr Picknick ausgepackt hatte – dauerte bis zum späten Nachmittag, dann war er plötzlich vorüber. Die merkwürdigen Geräusche verklangen in der Ferne. Die Gerüche begannen abzuklingen. Als die Arbeiterinnen sich wieder nach draußen wagten, fanden sie eine Szene vor, die so unheimlich war wie die gigantischen Wesen selbst. Einige Nestgefährtinnen, die draußen geblieben waren, waren platt in den Boden gedrückt worden. Und noch unheimlicher war, dass überall rund um das Nest Essenskrümel verteilt waren – Futter, wie

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