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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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es den Ameisen noch nie zuvor begegnet war. Manche Krümel waren so groß wie eine Arbeiterin, andere hunderttausendmal größer. Nichts davon glich toten Insekten, Pflanzenstücken oder irgendetwas sonst, woran die Ameisen sich erinnern konnten. Und doch war es reine Nahrung, reich an Proteinen, Fetten und Zuckern. Die Ameisen fanden die himmlischen Gaben weit köstlicher als die Ausscheidungen der Blattläuse und nahrhafter als frisch zermetzelte Schaben. Zu ihrem Glück hatten die Menschen ihre Essensreste gedankenlos mitten auf dem Territorium der Trailheader abgeladen.
    Ein Großteil der kollektiven Intelligenz der Kolonie ruhte im Gedächtnis der älteren Ameisen und bildete ein Gegengewicht zu Instinkt und Emotion. In der Vorstellung einer jungen Ameise, die erst dieses Jahr geboren war, waren die Erinnerungen einer älteren Schwester anein Ereignis des vergangenen Jahres, wenn sie überhaupt vermittelt werden konnten, ein Stück irrealer Ameisen-Urgeschichte.
    Für einige ältere Mitglieder im Superorganismus der Trailheader waren die wandelnden Bäume Mächte, die außerhalb des Ameisenkosmos lebten, ähnlich wie Götter für den menschlichen Verstand. Die Älteren dachten, und daher dachte auch ein Teil der Kolonie – wie es auch einen Bereich des menschlichen Gehirns gibt, der so denken dürfte –, dass die Baum-Götter sich in einer unerklärlichen Weise irgendwie um sie kümmerten. Vielleicht waren sie riesige Nestgefährten. Und vielleicht konnten sie ja jetzt, in der Stunde der ärgsten Bedrängnis, ihnen wieder ihr Wohlwollen erweisen.
    Andere von den Älteren dachten nicht so. Für sie waren die Götter nur eine etwas ungewöhnlichere Variante dessen, was der Kolonie auch sonst widerfuhr, wie ein kräftiger Wind vom See her oder ein wütendes Gewitter. Jedenfalls scherte sich nicht ein lebendiges Wesen um das Schicksal der Ameisen. Wieder andere – bestimmt eine kleine Minderheit – zweifelten, dass es die Götter überhaupt gab. Vielmehr hielten sie diesen Gedanken an Götter für nichts als eine einzige Täuschung aus uralten Zeiten – nach Ameisenstandards würde das menschlichen Jahrzehnten entsprechen.
    Bei den Trailhead-Bewohnern mischten sich Jammer und Hoffnung. Die Ameisen saßen da wie ein verdammtes Volk in einer belagerten Stadt. Sie verfolgten kein einheitliches Ziel mehr, und die soziale Maschinerie stockte. Keine Futtersuche, kein Säubern und Füttern von Larven, keine Königin, um die sie sich versammeln konnten. Die Pheromone ihrer Nachfolgerin, der Soldaten-Königin, warenzu schwach, um Zusammenhalt zu stiften. Die Ordnung in der Kolonie stand vor dem Zusammenbruch. Da draußen warteten unbezwingbar die verhassten, dreckigen, unameisenhaften Streamsider. Am Ende herrschten bei den Trailheadern nur noch Angst und Schrecken, und sie standen nur noch vor einer Entscheidung: kämpfen oder vor dem Schrecklichen davonlaufen. Nichts anderes stand mehr in ihrem kollektiven Bewusstsein.
    Feinde zu täuschen und einzuschüchtern, die stärkste Festung zu errichten, zu manövrieren, Nachschub zu liefern, sich Schutz zu suchen, präventiv zu denken, in eine bessere Heimat zu emigrieren – diese Optionen gab es für eine mögliche Rettung. Doch sie waren alle bereits vergeblich durchexerziert worden.

22

    F rüh am nächsten Morgen, als die aufgehende Sonne den Grasboden am Dead Owl Cove erwärmte und vom Tau trocknete und die Ameisen rund um den Nokobee wieder zum Leben erwachten, setzte die Armee der Streamsider ihren Angriff fort. Noch einmal bildeten die Soldaten der Trailheader einen Verteidigungsring um ihren Nesteingang. Diesmal waren bei dem Ausfall keine kleineren Ameisen dabei. Der Puffer, den diese Minor-Arbeiterinnen gestern außerhalb des Soldatenrings gebildet hatten, fehlte. Der Vorstoß der Streamsider war zielgerichtet, massiv und unerbittlich. Im Lauf einer Stunde hatte sich ihre Streitmacht zur maximalen Truppenstärke aufgebaut. Die Soldatinnen der Trailheader waren mehr und mehr geschwächt, und eine nach der anderen fiel. Es drängten keine neuen Kämpfer mehr in die Reihen, um die Verluste auszugleichen, und der Ring brach auf. Soldaten und Minor-Arbeiterinnen der Streamsider, vorneweg die Elite-Kundschafterin, rannten an der letzten der übrigen Verteidiger vorbei und drängten in den Hauptgang.
    Als sie in die Tiefe vordrangen und in die peripheren Gänge und Kammern ausschwärmten, trafen die Eroberer vom Streamside auf so gut wie keinen Widerstand. Die

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