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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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dieser Ereignisse und die Pracht ihrer Gaben erhob die unerklärlichen Besucher für die Streamsider in einen ähnlichen Status wohlwollender Gottheiten. Die Ameisen bezogen den Auftritt der Götter allein auf sich selbst und empfanden ihn als großen Segen. Sie folgten den Regeln des assoziativen Lernens, die für Ameisen genauso gelten wie für Menschen, und sahen auch die Götter als Teil ihrer extensiven Gesellschaft:
Sie denken wie wir (anders kann man gar nicht denken, andere Denkweisen auch nur zu erdenken ist ganz unmöglich), und sie sind Teil unserer Macht.
    Die Streamsider hatten die Trailheader besiegt, und dann begingen sie, so wie ein alttestamentlicher Stamm, der einen besiegten Stamm auslöschte, einen Myrmizid, entsprechend einem menschlichen Genozid. Nur die völligeZerstörung – wie bei der römischen Eroberung Karthagos – garantierte, dass der Rivale nie wieder hochkam. Die Streamsider besetzten nun das eroberte Territorium, legten ihre eigenen Duftspuren und markierten überall den Boden mit feuchten Ausscheidungen, die das territoriale Pheromon mit den koloniespezifischen Substanzen enthielten. Das geräumige Nestinnere des besiegten Feindes allerdings besetzten sie nicht. Momentan begnügten sie sich damit, ihr Hauptquartier im Mutternest zu halten. Sie patrouillierten über ihr neues Territorium, um Futter einzufahren, das aus Beutetieren, zuckrigen Ausscheidungen von Saftsaugern und den Leichen von Gliederfüßern bestand. Dank der reicheren Vorräte konnte die Streamside-Kolonie ihre Population nun rascher vergrößern.
    Es war ihre Stunde, und nach Bedarf würden sie irgendwann ihrerseits sterben. Sie eroberten und versklavten, besetzten das Land, das ihr Stamm begehrte. Sie folgten ihren Instinkten und durchliefen erfolgreich den Zyklus, der für das Fortbestehen ihrer Art notwendig war.

23

    Z u diesem Zeitpunkt hatte sich bereits, ohne dass die Streamsider davon wussten, östlich ihrer siegreichen Kolonie am Ufer des Dead Owl Cove weiter hinter dem Trailhead ein ominöser Wandel in der Umwelt vollzogen. Man hörte keine Vögel und keine Insekten mehr singen. Weniger Eichhörnchen, Wühlmäuse und andere Säugetiere durchstöberten das verlassene Land. Schmetterlinge und andere Bestäuber der Bodendecker waren kurz vor dem Aussterben.
    Auslöser dieses Absterbens war eine Populationsexplosion von Ameisen. Sie gehörten derselben Art an wie die Streamsider und andere Haufennestbauer am Ufer des Lake Nokobee, hatten aber eine einfache genetische Veränderung durchlaufen, die weit reichende Folgen auf ihr Sozialverhalten hatte. Die Mutation war so bedeutend, dass sie von außen betrachtet einer anderen Art anzugehören schienen. Kolonien, die zuvor bis zu zehntausend Arbeiterinnen und eine einzige Königin-Mutter beherbergten, waren einer Superkolonie gewichen, einem einzigen unermesslichen Staat aus Millionen von Arbeiterinnen und Tausenden Königinnen. Die Ameisen brauchten keine Territorien zu verteidigen, keine Turniere abzuhalten, auf dem weiten Gelände nicht um Futter zu konkurrieren, und so besetzte die Superkolonie den gesamten bewohnbaren Boden mit zahlreichen untereinander verbundenen Nestern.
    Pausenlos patrouillierten Arbeiterinnen auf Futtersuche über jeden Quadratdezimeter. Sie erforschten Tunnels und Spalte im Boden. Sie inspizierten jede Höhle, die Regenwürmer oder Käfer gegraben hatten. Sie fraßen jede Spinne, die sich aus ihrem Netz ziehen ließ. Sie duldeten in ihrem Gebiet keine andere Ameisenart. Anders als die gewöhnlichen Ameisenkolonien der Streamsider und anderer Vertreter ihrer Art wagten sie sich weit hinauf auf die Stämme der umstehenden Sumpfkiefern und durchforsteten die niedrigen Äste. Die Superkolonie durchkämmte wie keine gewöhnliche Ameisenkolonie je zuvor die kärgliche Krautschicht. Sie verwandelte einen beträchtlichen Teil der Kiefersavanne im Hochland des Nokobee-Ufers in einen sonst leblosen Ameisenteppich.
    Ameisenreiche wie dieses gibt es hin und wieder in verschiedenen Teilen der Welt. Eine ähnliche Transformation, die ursprünglich auf eine mutierte, aus Südamerika eingeschleppte Kolonie zurückging, hatten die Feuerameisen vollzogen, nachdem die Art einen Großteil der US-amerikanischen Südstaaten besetzt hatte. Ursache für das Aufkommen dieser Superkolonie am Nokobee war ein Defekt an nur einem Gen im Erbgut der Ameisen. Die Mutation löste keine neuen Prozesse in Hirn und Nervensystem aus – vielmehr hemmte sie einige von

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