Amelia Peabody 03: Der Mumienschrein
Gebrüll! Das Gebrüll eines Löwen!
Ich sprang aus dem Bett. Trotz meines Entsetzens empfand ich Stolz, denn diesmal hatte ich bestens reagiert und mich nicht in irgendwelchen Netzen verheddert. Ich packte meinen Sonnenschirm und stürmte zur Tür, während Emerson gerade fluchend und schimpfend zu sich zu kommen versuchte. »Vergiß nicht, deine Hose anzuziehen, Emerson!« rief ich noch schnell.
Da wir nur einen Löwen beherbergten, war es nicht weiter schwer, das Zimmer zu identifizieren, aus dem das Gebrüll gekommen sein mußte. Ramses’ Zimmer lag direkt neben unserem. Ohne anzuklopfen, öffnete ich die Tür.
Drinnen war es dunkel, denn der gesamte Fensterrahmen wurde von einer menschlichen Gestalt ausgefüllt, auf die ich sofort einschlug, ohne mich lang zu besinnen. Doch leider trafen meine Prügel genau das falsche Ende des Eindringlings, so daß seine Flucht nur beschleunigt wurde, denn sein Kopf und seine Arme befanden sich bereits außerhalb des Fensters. Bevor ich ihm folgen konnte, riß mich ein durchdringender Schmerz in meinem linken Fuß zurück, und ich fiel zu Boden.
Mittlerweile war der gesamte Haushalt aufgewacht. Schreie und Rufe ertönten aus allen Ecken. Emerson war der erste, der die Bühne betrat. Er rannte blindlings ins Zimmer und stolperte als erstes über mich. Danach kam John, der sich mit einer Lampe und einem dicken Stock bewaffnet hatte. Dank der Lampe konnte er den Schlag, den er gegen Emersons Körper führen wollte, gerade noch bremsen. Wenn ich Luft gehabt hätte, hätte ich ihm meine Anerkennung dafür ausgesprochen, daß er an die Lampe gedacht hatte, aber der Löwe knabberte immer noch an meinem Fuß, auch wenn er jetzt eher spielerisch mit mir umging, da er mich offenbar erkannt hatte.
Emerson sammelte seine Gliedmaßen ein und stand auf. »Ramses!« rief er. »Ramses, wo bist du?«
Jetzt erst fiel mir auf, daß wir bisher nichts von Ramses gehört hatten, was äußerst ungewöhnlich war. Auf seinem Bett türmten sich Decken, aber von dem Jungen war nichts zu sehen.
»Ra-a-amses!« schrie Emerson laut, wobei sein Gesicht ganz rot wurde.
»Ich bin unter dem Feldbett«, sagte eine schwache Stimme.
Es war Ramses. Emerson zerrte ihn hervor und wickelte Ramses aus dem Bettuch, in das man ihn verschnürt hatte. Danach preßte er seinen fast verlorenen Sohn an die Brust. »Sag, Ramses, bist du verletzt? Was haben sie mit dir gemacht, Ramses, mein Sohn …«
Nachdem Ramses etwas gesagt hatte, war ich fast beruhigt. Ich sperrte erst einmal den Löwen in seinen Käfig und sagte dann sehr sanft: »Emerson, er kann dir beim besten Willen nicht antworten, wenn du ihm die Luft abdrückst. Ich bitte dich, laß ihn doch erst einmal los!«
»Danke, Mama«, sagte Ramses außer Atem. »Zwifen dem Bettuch, daf ich mir gerade erft vom Mund wegziehen konnte, und Papaf Umarmung ift …«
»Guter Gott, Ramses!« unterbrach ich ihn. »Laß die langen Reden und erkläre uns genau, was geschehen ist, ja?«
»Ich kann nur raten, waf am Anfang paffiert ift, denn zu diefer Zeit habe ich feft geflafen«, sagte Ramses. »Ich nehme an, daf jemand durch daf Fenfter eingeftiegen ift. Ich bin erft aufgewacht, alf er oder fie – daf Geflecht konnte ich nicht unterfeiden – mich in daf Laken gewickelt hat. Alf ich mich befreien wollte, bin ich irgendwie vom Feldbett gerollt und lag plötzlich darunter.«
Er war noch immer etwas außer Atem. »Wie ist der Löwe aus dem Käfig gekommen?« fragte ich.
Ramses blickte zum Käfig hinüber, in dem sich der kleine Kerl zusammengerollt hatte und fest schlief. »Vielleicht habe ich vergeffen, die Tür zu fliefen.«
»Diesmal war es unser Glück«, sagte Emerson. »Ich schüttele mich bei dem Gedanken, was hätte passieren können, wenn uns das Tier nicht alarmiert hätte.«
»Das hätte er eingesperrt genauso tun können«, bemerkte ich. »Gebissen wurde nämlich nur ich, und wenn das nicht so gewesen wäre, hätte ich den Einbrecher vielleicht erwischt!«
Vater und Sohn musterten mich und sahen sich dann wortlos in die Augen. Genausogut hätten sie »Diese Frauen! Immer müssen sie sich über alles beklagen!« sagen können!
Am nächsten Morgen erinnerte ich Emerson an sein Versprechen, sofort mit den Arbeiten an den Pyramiden zu beginnen. »Du brauchst mich nicht daran zu erinnern, Amelia! Ein Emerson pflegt seine Versprechen zu halten. Heute können wir noch nicht beginnen, weil ich mir erst einen Überblick verschaffen und die Arbeiten an den
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