Amelia Peabody 03: Der Mumienschrein
hatte uns natürlich aufgefordert, am folgenden Morgen dem Begräbnis >unseres lieben Bruders< beizuwohnen, doch Emerson hatte nur sehr erstaunt festgestellt: »Sir, ich fürchte, Sie sind von Sinnen, mir diesen Vorschlag zu machen.«
Als wir ins Wohnzimmer zurückkehrten, hatte John bereits die Lampen angezündet. Ramses war ebenfalls da. Er mußte uns belauscht haben, denn er sagte sofort: »Ich möchte aber gern zur Beerdigung gehen.«
»Verrätst du mir auch, weshalb?« fragte Emerson.
»Man fagt, daf der Mörder zur Beerdigung feinef Opferf kommt. Ich glaube zwar nicht daran, aber ftreng wiffenfaftlich gefehen darf man eine Theorie nicht fo einfach ablehnen …«
»Ramses, du überrascht mich«, sagte Emerson. »Eine wissenschaftliche Untersuchung ist eine Sache, aber es gibt auch noch eine Art krankhafter Neugier, der hier – ich bedauere, es sagen zu müssen – auch erwachsene Menschen verfallen sind …« Offenbar wußte er nicht weiter und verstummte.
»Nur weiter, mein lieber Emerson«, sagte ich kühl.
»Bah«, machte er nur. »Ich … ich habe einen anderen Vorschlag. Statt an dem Begräbnis teilzunehmen, könnten wir nach Dahschûr reiten und de Morgan … nun, ihn besuchen.«
»Eine ausgezeichnete Idee, Emerson«, sagte ich. »Aber ich sehe keinen Grund, weshalb wir nicht beides tun sollten. Das Begräbnis ist früh am Morgen, und danach können wir nach Dahschûr reiten.«
Zu meiner Überraschung war Emerson mit dem Vorschlag einverstanden, und selbst Ramses stimmte freundlicherweise zu. Später, als er längst im Bett verschwunden war und John wieder Bibelstudien trieb, sagte ich zu meinem Mann: »Ich bewundere deine Selbstbeherrschung, Emerson. Du hast Ezekiel gegenüber keinmal die Geduld verloren.«
»Er ist doch soviel Aufregung gar nicht wert«, antwortete Emerson, während er sein Notizbuch beiseite schob. »Irgendwie amüsiert er mich. Er ist der verrückteste Mensch, den ich in letzter Zeit kennengelernt habe.«
»Glaubst du, daß er Hamid umgebracht hat?«
Emerson starrte mich an. »Weshalb zum Teufel sollte er das tun?«
»Du machst dir immer Gedanken über Motive, aber das ist nicht der richtige Weg, um einen Fall zu lösen.« Da mich Emerson immer noch anstarrte, sprach ich weiter. »Ich kann mir einige Gründe vorstellen. Vielleicht hat der Mann Charity unwillkommene Aufmerksamkeiten zukommen lassen – Ezekiel ist so prüde, daß für ihn ein freundlicher Gruß schon ein Verbrechen ist. Oder Ezekiel hat festgestellt, daß Hamid keineswegs so bekehrt war.«
»Peabody …«, begann Emerson in verdächtigem Ton.
»Ich habe mir einige Notizen zu dem Fall gemacht«, sagte ich schnell und öffnete mein Notizbuch. »Wir wissen jetzt, daß Hamid der enterbte Sohn Abd el Attis war und außerdem Mitglied in einem Ring illegaler Antiquitätenhändler. Ich teile deine Meinung, daß ein Verrat innerhalb des Rings der wahrscheinlichste Grund für Hamids Tod ist. Diese Banden haben weitreichende Macht, und falls Hamid seinen Eid, den er mit Blut besiegelt hat, verraten …«
»Peabody! Du überraschst mich immer wieder aufs neue! Wann hast du nur Zeit, all diesen Mist zu lesen?«
Ich nahm an, daß dies eine rhetorische Frage war, die ich nicht beantworten mußte. »Auf Drogenkonsumenten ist nur bedingt Verlaß. Vielleicht hat der große Unbekannte beschlossen, daß Hamid ein Risiko darstellt, und ihn beseitigen lassen.«
»Den Herrn kennen wir doch bereits, nicht wahr?«
»Bitte, Emerson! Hamid hat vielleicht Geschäfte auf eigene Rechnung gemacht. Jedenfalls ist dieser unbekannte Anführer der am meisten Verdächtige auf meiner Liste.«
»Ja, natürlich!« Emerson verschränkte seine Arme. »Weißt du vielleicht auch schon, wer dieser rätselhafte Unbekannte ist?«
»Wir können jedenfalls davon ausgehen, daß mehr als eine Person in diesen Fall verwickelt ist, denn Hamid konnte gestern nacht unmöglich in Ramses’ Zimmer einbrechen, weil er wahrscheinlich schon seit Tagen tot war, wahrscheinlich seit der Brandnacht.«
»Hm«, machte Emerson. »Nun gut, eine Bande will ich dir ja zugestehen, Peabody, aber einen großen Unbekannten?«
»Eine Bande hat immer einen Anführer. Natürlich habe ich mir Gedanken gemacht, wer es sein könnte.« Ich blätterte eine Seite um. »Bitte, unterbrich mich nicht dauernd. Das Problem ist schon schwierig genug, und du bringst mich durcheinander.«
»Aber das will ich doch in keiner Weise«, sagte Emerson.
»Der Anführer ist offensichtlich
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