Amelia Peabody 03: Der Mumienschrein
müßten wir ihm für so viel Aufrichtigkeit Beifall spenden. Doch irgendwann begnügte er sich mit Bruder Davids Bewunderung und fuhr fort: »Er war eine treue Seele.«
»Ein guter Mensch«, sagte Bruder David.
»Wir werden ihn sehr vermissen.«
»Einer der Auserwählten.«
»Ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden.«
Diese überraschende und völlig abweichende Meinung war unter Charitys Haube hervorgekommen. Ihr Bruder sah sie völlig entgeistert an, während sie weitersprach. »Er war so kriecherisch, und manchmal, wenn du nicht hingesehen hast, hat er ganz hinterhältig gegrinst.«
»Charity! Charity!« mahnte Bruder David. »Du vergißt dich.«
Das Mädchen wandte sich ihm zu wie eine Blume dem Sonnenlicht. »Du hast recht, Bruder David. Vergib mir!«
»Das kann nur Gott, meine Liebe.«
Emerson hatte die Szene genüßlich beobachtet, doch nun hatte er genug. »Wann haben Sie Hamid denn zuletzt gesehen?«
Alle erklärten übereinstimmend, daß sie ihn seit dem Feuer nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten. Er hatte noch mit den anderen Bekehrten zu Abend gegessen und sich dann in seine Hütte zurückgezogen. Bruder David meinte, ihn noch später gesehen zu haben, doch Bruder Ezekiel bestand darauf, daß er ihn zu den Verdächtigen gerechnet hätte, weil er beim Löschen nicht mitgeholfen hätte. Als er auch am nächsten Morgen nicht erschienen war, hatte man festgestellt, daß nicht nur er, sondern auch seine bescheidene Habe verschwunden war. »Wir nahmen an, daß er zurück in sein Dorf gegangen wäre«, sagte Bruder David. »Unsere Bekehrten bleiben manchmal, und manchmal bleiben sie nicht …«
»Ich verstehe«, sagte Emerson. »Ihre Naivität ist kaum zu begreifen. Sie haben einen völlig fremden Menschen ohne Empfehlung oder ähnliches in Ihr Haus aufgenommen …«
»Wir sind alle Kinder Gottes«, verkündete Ezekiel.
»Das ist Ihre Meinung«, gab Emerson zurück. »In diesem Fall hatte jedenfalls Miß Charity ein gesünderes Mißtrauen. Ihr >Bruder< war kein Kopte, sondern ein Moslem. Er kam auch nicht aus irgendeinem Dorf, sondern aus der Kairoer Unterwelt. Er war ein Lügner, wahrscheinlich ein Dieb und vielleicht sogar ein Mörder.«
Hätte Emerson mich vorher gefragt, so hätte ich ihm abgeraten, diese Informationen aus der Hand zu geben. Dem Leser wird aufgefallen sein, daß er es so dargestellt hat, als hätte er persönlich diese Dinge herausgefunden. Ich war jedoch nicht böse, denn diese plötzliche Konfrontation gab mir die Gelegenheit, die Reaktionen der beiden zu beobachten, die ich aus Gründen, die ich später erörtern werde, natürlich in den Kreis der Verdächtigen einbezogen hatte. Doch Bruder David war ehrlich überrascht, und Bruder Ezekiel sah aus, als hätte ihn der Schlag getroffen. Er konnte gar keine Worte finden. »Was … wo … wie haben Sie …«
»Es gibt überhaupt keinen Zweifel, daß er ein ausgemachter Schurke war«, bestätigte Emerson. »Er hat Sie hübsch an der Nase herumgeführt!«
»Sie bezeichnen den armen Kerl als Dieb«, sagte Bruder David. »Da er sich nicht mehr selbst verteidigen kann, möchte ich das an seiner Stelle tun. Hat er Ihnen etwas gestohlen?«
»Uns hat er nichts gestohlen. Das heißt …« An der kleinen Unsicherheit merkte ich, daß Emerson soeben an den gestohlenen Mumiensarg gedacht hatte, doch er entschied sich, diese Angelegenheit unerwähnt zu lassen. »Er war aber verantwortlich für den Diebstahl bei der Baronin.«
»Woher wissen Sie das?« fragte Bruder Ezekiel.
»Mrs. Emerson und ich haben unsere Methoden«, antwortete Emerson.
»Aber wenigstens eines der gestohlenen Dinge wurde doch wiedergefunden«, sagte Ezekiel.
»Das war ein Irrtum. Der Mumien …« Emerson hatte immer noch etwas Mühe, dieses Wort glatt über die Lippen zu bringen. »Der Mumiensarg war nicht derjenige der Baronin. Der fehlt immer noch. Aber wir sind ihm auf der Spur und werden ihn vermutlich bald aufstöbern.«
Bruder David richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Verzeihen Sie mir, Professor, aber ich kann nicht länger zuhören, wenn Tote beschuldigt werden. Inzwischen müßten unsere Männer angekommen sein. Bitte führen Sie uns jetzt zu unserem unglücklichen Bruder, damit wir ihn mitnehmen können.«
»Aber selbstverständlich. Ich werde Ihnen auch einen Sack leihen, damit Sie ihn besser transportieren können.«
Die Sonne versank gerade in voller Pracht, als die Prozession sich in Richtung auf das Dorf in Bewegung setzte. Man
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