Amelia Peabody 03: Der Mumienschrein
nicht das, was er vorgibt zu sein.«
»Ausgezeichnet, Peabody!«
»Bitte, Emerson! Ich will damit sagen, daß er oder sie – man sollte die natürlichen Eigenschaften des sogenannten schwachen Geschlechts nicht immer verleugnen … wo war ich stehengeblieben?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, Peabody.«
»Der große Unbekannte hat noch eine zweite Existenz, die wahrscheinlich höchst respektabel ist. Vielleicht ein Missionar – ein adeliger Russe – eine deutsche Baronin – ein Archäologe …«
»Hm«, machte Emerson. »Ich versichere, daß ich nicht dein Unbekannter bin, denn ich habe ein Alibi. Du weißt, wo ich mich in der Nacht aufhalte.«
»Dich habe ich nie verdächtigt, Emerson!«
»Wie froh bin ich, das zu hören, Peabody!«
»Ich möchte die Verdächtigen der Reihe nach besprechen. Zuerst Bruder Ezekiel. Was wissen wir von seinem Leben, bevor er hierhergekommen ist? Ich bezweifle nicht, daß die >Brüder des Heiligen Jerusalem< eine legitime Sekte sind, aber sie scheinen mir doch recht sorglos im Umgang mit fragwürdigen Existenzen. Vielleicht sind alle Mitarbeiter der Mission beteiligt – Bruder David als Verbindungsmann zwischen Mazghunah und der Kairoer Unterwelt, und Miß Charity als Tarnung. Ihre Gegenwart verleiht allem ein unschuldiges Aussehen.«
Emersons Interesse wuchs, doch er versuchte, es zu verbergen. »Da hast du es wieder, Peabody! Dein Vertrauen in junge, gutaussehende Leute! Genausogut könnte sie das Oberhaupt der Bande sein.«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich es ihr nicht zutraue, Emerson. Sie ist viel zu gut, um echt zu sein. Eine Karikatur einer frommen jungen Dame! Bruder David könnte ebenfalls der Anführer sein. Aber ich halte auch Prinz Kalenischeff für mindestens ebenso verdächtig. Sein Ruf ist nicht der beste, sein Titel fragwürdig, die Quelle seines Einkommens unbekannt. Und Slawen sind, meiner Meinung nach, sehr wankelmütige Leute.«
»Und die Deutschen, Peabody?« Emerson rieb sich sein Kinn. »Ich gestehe, daß mir der Gedanke, eine Baronin zur Hauptschuldigen zu machen, gefällt. Im Augenblick dürfte sie zwar gerade in Luxor sein, und ein wirklicher Anführer müßte doch immer in der Nähe des Tatorts bleiben, oder nicht?«
»Sie ist nicht in Luxor«, rief ich triumphierend. »Ich habe den Nachmittag im Shepheard’s verbracht und den neuesten Klatsch gehört. Zwei Tage nachdem die Baronin Dahschûr verlassen hatte, ist ihre Dahabije bei Minieh auf Grund gelaufen. Die Baronin ist daraufhin mit dem Zug nach Kairo zurückgekehrt und wohnt jetzt in dem neuen Hotel bei den Pyramiden in Gizeh – Mena House. Von Gizeh nach Dahschûr braucht man mit dem Esel zwei Stunden, mit dem Zug natürlich weniger.«
»Dann wäre der Diebstahl also nur ein Ablenkungsmanöver gewesen?«
»Möglicherweise, aber nicht wahrscheinlich. Ich glaube eher, daß der Einbruch eine Rebellion Hamids gewesen ist, immer vorausgesetzt, daß die Baronin das Oberhaupt der Bande ist.«
»Und welchen Archäologen hast du in Verdacht? Doch nicht etwa unseren ehrenwerten Nachbarn?«
»Kannst du mir eine bessere Tarnung sagen? Wer sonst hat die offizielle Berechtigung, Ausgrabungen durchzuführen und Informationen über neue Entdeckungen zu sammeln? De Morgan hat alles unter Kontrolle, was sich in Ägypten abspielt, und kann jeden von vielversprechenden Ausgrabungsplätzen fernhalten. Erst im letzten Jahr hat er Gräber der zwölften Dynastie ausgegraben, und später gab es dann plötzlich Stücke aus dieser Zeit auf dem illegalen Markt zu kaufen.«
Emerson sah träumerisch in die Ferne, doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Peabody. Wir müssen einen besseren Weg finden, um die Genehmigung für Dahschûr zu erhalten. De Morgan ins Gefängnis zu bringen ist keine Lösung. Aber die Überlegung, daß möglicherweise ein Archäologe an der Spitze einer solchen Händlerbande steht, ist faszinierend. Es gibt außer de Morgan noch einige andere Kollegen, die nicht gerade an Charakterstärke leiden.«
»Ich habe keine Sekunde lang geglaubt, daß Mr. Petrie unser Unbekannter ist, Emerson.«
»Hm«, machte Emerson.
Obwohl wir uns noch eine ganze Weile weiter über dieses Thema unterhielten, ergaben sich keine neuen Gesichtspunkte mehr. Ich hoffte, bei unserem morgigen Besuch mehr in Erfahrung bringen zu können. Kalenischeff war sicher noch in Dahschûr, um de Morgan zu helfen, wie er vorgab. Ich freute mich schon auf eine weitere Unterhaltung mit dem Herrn.
Wir gingen erst
Weitere Kostenlose Bücher