Amelia Peabody 04: Im Tal der Sphinx
Gezielte Fragen entlockten ihm Informationen, die er zwar nicht absichtlich verschwiegen hatte, die ihm aber nicht bewußt gewesen waren. Er hatte nicht aus dem Fenster schauen können, aber er hatte – wenn auch gedämpft und aus der Ferne – Geräusche gehört. So fügte sich eins zum anderen, der von ihm erwähnte Lärm ließ darauf schließen, daß er nicht etwa in einem Dorf oder auf einem entlegenen Landsitz festgehalten wurde, sondern mitten in einer Großstadt.
»Kairo, Emerson«, rief ich.
»Das habe ich von Anfang an vermutet«, sagte Emerson niedergeschlagen. »Aber wo genau in diesem Hexenkessel?«
Keine der weiteren Fragen führte zur Beantwortung dieser wichtigen Frage. Als wir uns zum Aufbruch erhoben, waren wir praktisch genauso schlau wie zuvor. Vater Todorus, der zwei Becher Cognac getrunken hatte, begleitete uns zur Tür, sprach uns erneut seinen Dank aus und versicherte uns, daß er uns in seinen Gebeten lobend erwähnen würde. Emerson zog eine Grimasse.
Während wir auf unsere Esel zuschlenderten, sagte ich: »Vater Todorus geht recht großzügig mit seinem Cognac um. Ich nehme an, Sethos ist in solcher Eile aufgebrochen, daß er die Annehmlichkeiten, mit denen er sich versorgt hatte, nicht mitnehmen konnte. Aber nach der Menge zu urteilen, wie das Zeug konsumiert wird, muß er einen erheblichen Vorrat zurückgelassen haben.«
Emerson blieb plötzlich stehen. »Ha!« brüllte er. »Ich wußte doch, daß mir irgendeine Kleinigkeit keine Ruhe ließ, aber ich hatte keine Ahnung, was es sein könnte. Gut überlegt, Peabody.«
Woraufhin er zum Haus des Geistlichen zurückrannte – natürlich mit mir im Schlepptau. Als Vater Todorus auf sein durchdringendes Klopfen reagierte, hielt er immer noch seinen Becher in der Hand. Als er Emerson sah, lächelte er holdselig. »Sie sind zurückgekehrt, o Vater der Flüche. Kommen Sie mit der ehrwürdigen Sitt, Ihrer Frau, doch herein und nehmen Sie – hicks! – noch einen Cognac.«
»Ich möchte Ihnen nichts wegtrinken, Vater«, sagte Emerson grinsend. »Denn Ihr Vorrat ist sicherlich begrenzt.«
Das schmale Gesicht des Mannes nahm traurige Züge an. Man hätte meinen können, Emerson hätte ihm Diebstahl oder Schlimmeres vorgeworfen, und mein Gatte raunte mir auf englisch zu: »Wirklich, Peabody, es ist so einfach, diesen Burschen zu verunsichern. Er kann sich genausowenig verstellen wie ein Kind.«
»Noch weniger«, sagte ich bedeutungsvoll, »als eine ganze Horde Kinder.«
»Hmhm«, sagte Emerson. Dann sprach er den Geistlichen erneut auf arabisch an: »Ihre Vorräte sind aufgefüllt worden, Vater – stimmt doch, oder? Wie häufig und in welcher Form?«
Der Geistliche stöhnte auf. Er wollte seine Hände ringen. Als er sich bewußt wurde, daß er noch den Becher festhielt, stürzte er den Inhalt in einem Zug hinunter. Mit einem schiefen Seitenblick auf seine neugierigen Zuhörer stammelte er: »Es waren die Dämonen, o Vater der Flüche. Ich flehe Sie an, lassen Sie es nicht meine Schäflein wissen. Sie gehen sonst zum Patriarchen und verlangen Hilfe gegen die Mächte des Bösen, und ich versichere Ihnen, ich schwöre Ihnen, daß ich die Dämonen besiegen kann. Ich bete ja schon ununterbrochen …«
Emerson beruhigte ihn, und der kleine Mann fand den Mut, weiterzusprechen. Seit seiner wundersamen Rückkehr aus der Gefangenschaft hätte es zwei Cognaclieferungen von den bösen Geistern gegeben. Beide Male hätte er die Kisten morgens nach dem Aufwachen neben seinem Bett vorgefunden. Er hätte sich nicht die Mühe gemacht, nach irgendwelchen Spuren der Eindringlinge zu suchen, da Dämonen ja bekannterweise materielos seien und von daher keine Fußspuren hinterließen.
Nachdem wir wiederholt unsere guten Absichten bekräftigt hatten, brachen wir endgültig auf. Der Geistliche verschwand im Haus, zweifellos um das dämonische Geschenk in entsprechend angemessener Form zu vernichten.
»Was für eine seltsame Sache«, rief ich, als wir aus dem Dorf hinausritten. »Dieser Mann, dieses unbekannte Genie des Verbrechens, ist gleichzeitig grausam und mitfühlend. Kisten feinsten französischen Cognacs wären sicherlich nicht meine Art der Entschuldigung und Wiedergutmachung für ein solch ungehöriges Vorgehen, aber …«
»Oh, Peabody, benutze deinen Verstand«, brüllte Emerson mit hochrotem Gesicht. »Entschuldigung und Wiedergutmachung, in der Tat! Ich habe noch nie einen solchen Unfug gehört!«
»Warum sollte er sonst
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