Amelia Peabody 04: Im Tal der Sphinx
mein Auftauchen den Gesprächsverlauf, den ich überaus interessant und provokant fand, behindern würde. Jetzt, wo ich einmal hier bin, können wir über mögliche Verwechslungsgefahren in bezug auf die neueste Enthüllung sowie ihre Auswirkung auf das vor uns liegende Kernproblem diskutieren. Ich beziehe mich dabei selbstverständlich auf …«
»Gütiger Himmel, Ramses, gehört Lauschen neuerdings auch zu deinen schlechten Eigenschaften?« entfuhr es mir. »Heimlich an Türen zu horchen ist ungehörig.«
»Aber es ist überaus nützlich«, erwiderte Ramses und hielt seinem Vater, der den Whiskey einschenkte, ein Glas hin. Er lebte ständig in der Hoffnung, daß Emerson es geistesabwesend füllen und ebenso geistesabwesend mitansehen würde, wie sein Sohn es trank. Die Chance, daß beide Zufälle am gleichen Tag eintrafen, lag zwar bei Null, aber Ramses hatte mir einmal erklärt, daß der Versuch ja nichts kostete.
Bei dieser Gelegenheit blieb er wirkungslos. Emerson reichte mir mein Glas. »Ich frage mich«, sinnierte er, »wie Mr. Ronald Fraser wissen konnte, daß die junge Dame bei uns ist. Er macht auf mich nicht den Eindruck einer geistigen Koryphäe.«
»Vielleicht hat er sie gestern kurz wahrgenommen«, meinte ich.
»Möglicherweise. Nun, Peabody, was meinst du? Wer ist der Schuldige, Donald oder Ronald?«
»Wie kannst du dir darüber im Zweifel sein, Emerson. Enid hat uns doch gesagt …«
»Ja, aber das ist die Version eines jungen Mädchens, in der sie sogar zugibt, daß sie nicht genau weiß, was wirklich zwischen den Brüdern vorgefallen ist. Die beiden wissen das sicherlich besser zu beurteilen als sie.«
Logisch betrachtet hatte er recht. In jeder anderen Hinsicht war er im Unrecht. Ich konnte keine rationalen Argumente dagegensetzen, nur ein umfassendes Wissen um die menschliche Natur, was in Fällen wie diesem weitaus verläßlicher ist als reine Logik. Aber ich konnte mir Emersons Reaktion bereits ausmalen, falls ich etwas Derartiges erwähnte.
»So interessant und ergreifend die persönlichen Angelegenheiten der jungen Leute auch sein mögen, Emerson, noch wichtiger ist unsere Suche nach dem Meisterverbrecher. Die Enthüllungen von Vater Todorus enthalten letztlich möglicherweise doch einen Hinweis. Oder vielleicht weiß einer der Dorfbewohner mehr, als er oder sie zuzugeben bereit ist.«
Ramses wollte umgehend eingeweiht werden, worüber wir sprachen. Um den Jungen zu erheitern, erzählte Emerson ihm von Vater Todorus’ Versuchungen – ließ allerdings, das brauche ich wohl kaum zu erwähnen, jeglichen Hinweis auf andere Versuchungen als die in flüssiger Form aus.
»Hmhm«, sagte Ramses mit geschürzten Lippen. »Der Vorfall wirft ein überaus facettenreiches Licht auf die Persönlichkeit des von uns gesuchten Gentleman, aber trotzdem sehe ich dahinter keine brauchbare Information. Wenn ich dem Geistlichen vielleicht ein paar Fragen stellte …«
»… würdest du auch nicht mehr in Erfahrung bringen als wir«, sagte ich kurz angebunden. »Um ehrlich zu sein, würde Vater Todorus vermutlich kaum Wert darauf legen, sich einem Heranwachsenden anzuvertrauen. Dein Vater hat recht. Dieses kriminelle Genie …«
Emersons Gesicht zuckte. »Mußt du ihn ständig so nennen? Das klingt so schmeichelhaft.«
»Ich sehe darin nichts Schmeichelhaftes, Emerson. Wenn es dich allerdings stört, werde ich mich darauf beschränken, ihn Sethos zu nennen. Ein wirklich merkwürdiger Name. Ich frage mich, was ihn zu dieser Wahl verleitet hat.«
»Ich«, sagte Emerson, »könnte mir keinen sinnloseren Gedanken vorstellen.«
»Aber Mamas Ansatz ist doch einer Überlegung wert«, legte Ramses los. »Wir wissen, daß dieser Gentleman einen merkwürdigen Sinn für Humor hat sowie Spaß dabei empfindet, seine Gegner herauszufordern. Was wäre, wenn dieser Deckname gleichermaßen Scherz wie Herausforderung darstellt?«
»Das glaube ich kaum, Ramses«, sagte ich. »Es ist eher wahrscheinlich, daß der Name die poetischen und phantasievollen Vorstellungen des Mannes zum Ausdruck bringt. Die Mumie Sethos’ des Ersten ist bemerkenswert attraktiv (soweit das bei Mumien noch der Fall sein kann), und der Satz, der Set als Löwen im Tal der …«
»Pah«, sagte Emerson. »Was für ein Unsinn, Peabody.«
»Ich bin geneigt, Papas Werturteil zuzustimmen, wenn auch nicht in der gegebenen sprachlichen Ausdrucksform, denn es würde mir an kindlichem Respekt fehlen, wenn ich mir eine solche Begrifflichkeit gegenüber
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