Amelia Peabody 04: Im Tal der Sphinx
die Tür geöffnet wurde; die Angeln mußten sehr gut geölt sein. Ein sanfter Lufthauch war meine einzige Warnung. Darauf folgte das abrupte Beiseiteziehen des schweren Vorhangs, und dann betrat ein Mann den Raum. Ich war bereit. Mit der größtmöglichen Wucht ließ ich meinen Handkantenschlag auf seinen Nackenwirbel niedergehen.
Zumindest war es meine Absicht gewesen, ihn an dieser Stelle zu treffen. Meine Handflächen waren mitten auf seinem Rücken aufgeprallt und sanken dann schlaff und wie betäubt nach unten. Der Bursche war fast zwei Meter groß, und seine Muskeln fühlten sich an wie Granit.
Er bot einen erstaunlichen und anziehenden Anblick, ein Hüne, der geradewegs Tausendundeiner Nacht hätte entstiegen sein können. Seine einzige Bekleidung bestand aus einer knielangen Hose, die in der Taille von einer breiten, dunkelroten Schärpe gehalten wurde, in die er an jeder Hüfte einen langen Krummsäbel gesteckt hatte. Ansonsten war sein Körper nackt, von seinem glattrasierten Kopf bis zur Magengegend und von seinen Knien bis zu seinen überdimensionalen Füßen. Jeder Quadratzentimeter seiner entblößten Haut glänzte ölig und war von Muskeln durchsetzt.
Er sah mich mit verhaltener Neugier an. Ich schätze, daß ihm mein Schlag wie der Hauch eines Schmetterlingsflügels vorgekommen sein muß. Als er langsam auf mich zukam, wich ich Schritt für Schritt zurück, bis meine Kniekehlen das Sofa berührten und ich mich unvermittelter hinsetzen mußte, als ich das eigentlich beabsichtigt hatte. Das war es wohl auch, was diese Erscheinung von mir erwartet hatte. Er blieb stehen und nahm dann militärische Haltung an, als der Vorhang ein weiteres Mal zur Seite geschoben wurde und der Meister selbst zum Vorschein kam.
Ich kannte ihn – und doch hatte ich ihn so noch nie zuvor gesehen. Ein schwarzer Vollbart verdeckte seine untere Gesichtshälfte; doch im Gegensatz zu der wilden Pracht, die er in seiner Verkleidung als Vater Girgis gewählt hatte, war dieser Bart kurz gehalten und gepflegt. Getönte Gläser verbargen seine Augen, und ich hatte keinen Zweifel daran, daß seine schwarzen, wehenden Locken falsch waren. Er trug Reithose, Stiefel und ein weißes Seidenhemd mit weiten Ärmeln, eine Aufmachung, die seine schmale Taille sowie seine breiten Schultern betonte und in mir die Frage aufwarf, wie er jemals die Rolle des schmalbrüstigen, schwindsüchtig dreinblickenden jungen Adligen hatte spielen können.
Mit einer befehligenden Geste entließ er den Wächter. Der Hüne fiel mit einer tiefen Verbeugung vor ihm auf die Knie und verschwand dann.
»Guten Tag, Amelia«, sagte Sethos. »Ich hoffe, ich darf Sie so nennen?«
»Das dürfen Sie nicht«, erwiderte ich.
»Trotzig wie eh und je«, murmelte er. »Ihr stets unbeugsamer Wille und Ihr außerordentlicher Mut überraschen mich dennoch nicht. Aber macht es Sie nicht zumindest neugierig, wie ich Sie hierhergebracht habe?«
»Neugier ist eine Eigenschaft, die ich mir hoffentlich immer erhalten werde«, sagte ich. »Aber im Augenblick interessiert mich die Frage, wie ich hierhergekommen bin, weitaus weniger als die Überlegung, wie ich von hier verschwinden kann.«
»Dann erlauben Sie mir, Ihre Neugier hinsichtlich der ersten Frage zu befriedigen«, kam die höfliche Antwort. »Aber zunächst wollen wir es uns gemütlich machen.«
Er klatschte in die Hände. Der Hüne erschien ein weiteres Mal mit einem Tablett, das in seinen riesigen Händen wie ein Spielzeug wirkte. Er stellte es auf den Tisch und verschwand. Sethos füllte Wein in die Kristallkelche.
»Ich weiß, daß Sie durstig sein müssen«, bemerkte er, »denn das von mir gezwungenermaßen eingesetzte Betäubungsmittel hat diese Wirkung, und ich habe bemerkt, daß Sie weder von den Früchten probiert noch den Becher benutzt haben. Ich bewundere Ihre Vorsicht, die jedoch unnötig war, denn das Wasser und das Obst sind makellos, ebenso wie der Wein.«
»Ich hatte Cognac erwartet«, bemerkte ich ironisch.
Sethos brach in schallendes Gelächter aus und offenbarte dabei zwei Reihen gepflegter, weißer Zähne. »Also hat Ihnen mein kleiner Scherz mit dem Geistlichen gefallen? Da einige törichte Personen immer noch meinen, daß mein himmlischer Patron der Satan persönlich sein muß, bestärkt mich das in dem Gefühl, diesem Ruf alle Ehre zu machen. Die Scheinheiligen und die Frommen in Versuchung zu führen und die Lächerlichkeit zu beobachten, mit der sie vom Pfad der Tugend abkommen, erfüllt
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