Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
meine Karte. »Mrs. Emerson?« Dann wich ihr besorgtes Stirnrunzeln einem breiten, erfreuten Lächeln. »Mrs. Emerson! Sie sind die Dame, von der in allen Zeitungen berichtet wird?«
»Äh – ja«, erwiderte ich.
»Aber dann sind Sie ja diejenige, die Mumien und solche Dinge in Indien ausgräbt!«
»In Ägypten.«
»Gewiß, Madam, Ägypten. Oh, Madam, welch ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Wie geht es Ihrem armen, kleinen Jungen?«
»Meinem armen, kleinen …? Danke, recht gut.«
Sie hielt mich länger auf, als mir lieb war, trotzdem gelang mir schließlich die Flucht; und während ich die Treppe hinaufstieg, konnte ich mir ein ironisches Grinsen nicht verkneifen, als ich begriff, daß mir keineswegs meine respekteinflößende Erscheinung, sondern meine traurige Berühmtheit Einlaß verschafft hatte.
Mr. Wilson bewohnte einige hübsche Zimmer – aufgrund ihrer Lage vermutlich die besten im ganzen Haus. Der Salon überblickte die Straße; dahinter befand sich ein aufgeräumtes, kleines Schlafzimmer. Obwohl sie gemütlich und geschmackvoll eingerichtet war, war seine Wohnung keinesfalls luxuriös. Einige Antiquitäten standen herum; außer der hübschen, kleinen Alabasterbüste einer unbedeutenden Königin – deren Gesichtszüge eine gewisse Ähnlichkeit mit Miss Minton aufwiesen – gab es nichts Außergewöhnliches, und ich hätte nicht sagen können, ob irgend etwas fehlte.
Eine weitere Nachforschung, die mir eigentlich nicht zustand, die ich aber für erforderlich hielt, brachte zutage, daß Mr. Wilsons Lebenswandel ebenso korrekt war wie seine äußere Erscheinung. Auf einer Anrichte standen verschiedene Karaffen mit Brandy und Whiskey sowie eine Zigarrenkiste, aber ich fand keine Spur von Drogen. Lediglich eine Sache verwirrte mich – eine verschlossene Schublade in seinem Schreibtisch, für die ich keinen Schlüssel fand und die ich auch nicht gewaltsam zu öffnen wagte. Es ist vermutlich einfach, eine Ausrede für den Besuch bei einem jungen Mann zu erfinden, allerdings gestaltet es sich erheblich schwieriger, den Einbruch in eine verschlossene Schublade zu erklären.
Die ganze Sache dauerte höchstens zehn Minuten, denn wenn es sein muß, bin ich schnell wie der Blitz. Ich schritt die Stufen hinunter, rief nach der Vermieterin, die in der Küche mit Pfannen und Töpfen hantierte, und erklärte ihr, daß ich nicht länger warten könne. Dann suchte ich mein Heil in der Flucht, bevor sie mich erneut in ein Gespräch verwickeln konnte.
Ich war nur vierzig Minuten überfällig. Als er mich sah, schien Gargery erleichtert. »Oh, Mrs. Emerson, wir haben uns schon Sorgen gemacht. Der Gentleman ist hier –«
»Ja, danke«, meinte ich und händigte ihm Schirm und Mantel aus. »Ich gehe sofort zu ihm.«
Ich weiß nicht, wer aufgrund meines Eintretens erleichterter wirkte – Emerson oder Mr. Wilson. Mir war klar, warum Emerson erleichtert war, und ich vermutete, daß Mr. Wilson froh war, den bohrenden Fragen Emersons zur Ägyptologie zu entkommen. Im Anschluß an die üblichen Begrüßungs- und Entschuldigungsfloskeln erklärte ich fröhlich: »Mr. Wilson, ich habe mich verspätet, weil mir ein dummer Fehler unterlaufen ist. Irgendwie bin ich davon ausgegangen, daß ich den Tee bei Ihnen einnähme und nicht umgekehrt. Eine halbe Stunde lang habe ich auf Sie gewartet, bis ich erkannte, daß es sich um einen Irrtum handeln mußte. War das nicht verrückt?«
Die einzig mögliche Antwort lautete »Ja, das war es sicherlich«, da Mr. Wilson jedoch niemals eine solche Unhöflichkeit an den Tag gelegt hätte, murmelte er nur leise vor sich hin und grinste verschämt.
»Hmhm«, sagte Emerson und warf mir einen strafenden Blick zu. »Ja, das war es sicherlich. Du hast eine überaus interessante Diskussion über die frühzeitlichen Keramiken in Quesir verpaßt, Peabody. Mr. Wilson war vor zwei Jahren dort. Allerdings scheint er sich nicht daran zu erinnern.«
»Wie schade, daß mir das entgangen ist, Emerson. Falls es Mr. Wilson allerdings nichts ausmacht, würde ich gern von etwas anderem sprechen.«
Mr. Wilson beeilte sich, mir zu versichern, daß es ihm nicht im geringsten etwas ausmachte.
»Sie müssen entschuldigen, wenn ich dieses Thema anschneide, Mr. Wilson, aber die Sache ist so ernst, daß sie schnelles Handeln erfordert. Ich möchte, daß Sie mir alles erzählen, was Sie über Mr. Oldacre wissen.«
Ich hatte damit gerechnet, ihm das genauer darlegen zu müssen – denn die meisten Leute
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