Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
Lichtblicke ihrer Kindheit bezeichnen. Doch schon lange vor meinen Aufzeichnungen waren die Bäume auf der Isle of Dogs häßlichen Fabrikschloten gewichen, die schmutziggrauen Rauch in die diesige, sich wie ein Leichentuch über London breitende Wolkendecke pusteten. Der Fluß, der von schäbigen Häusern, Kohledocks und Lagergebäuden gesäumt wurde, nahm träge seinen Lauf und stank unsäglich nach Unrat. An Deck unseres Dampfers, der gerade Kurs auf das Royal Albert Dock nahm, stellte ich fest, daß es regnete. Am Tag unserer Rückkehr nach England schien es immer zu regnen.
Doch obwohl ich verträumt an den strahlendblauen Himmel über Ägypten dachte, konnte ich mich der pulsierenden Nähe der berühmtesten aller Hauptstädte nicht entziehen – dem Zentrum des Empires, der Heimat geistiger und kultureller Größe, dem Land der Freien und der Heimat des wahren britischen Forschergeistes.
Meine Überlegungen vertraute ich Emerson an. »Mein geliebter Emerson, da ist irgend etwas Atmosphärisches an der Heimkehr ins Zentrum des Empires, in die Heimat der Dichter und Künstler –«
»Hör auf mit diesem verflu … – äh – verrückten Unsinn, Amelia«, brummte Emerson, während er mir mit seinem Taschentuch Schmutz von der Wange wischte. »Die Luft ist rabenschwarz.«
Ramses, der zwischen uns stand – ich hielt ihn an einem Arm, Emerson an seinem anderen fest –, mußte natürlich seine Meinung beisteuern. »Anatomische Studien an Londoner Leichnamen belegen, daß das ständige Einatmen dieser Luft dunkle Schatten auf den Lungenflügeln verursacht. Allerdings glaube ich, daß Mama nicht die Atmosphäre meinte, sondern die intellektuelle –«
»Sei still, Ramses«, sagte ich automatisch.
»Ich bin mir dessen bewußt, was deine Mama gemeint hat«, erwiderte Emerson stirnrunzelnd. »Was hast du vor, Amelia? Vermutlich werde ich dazu gezwungen sein, länger als mir lieb ist, in dieser dreckigen Stadt zu verweilen, wenn ich mein Buch fertigstellen –«
»Du wirst zweifellos einen Großteil deiner Zeit in London verbringen müssen, wenn du es noch vor unserer Rückkehr nach Ägypten im kommenden Herbst fertigstellen willst. Vergiß nicht, daß die Oxford University Press bereits vor einem Jahr sein unmittelbares Erscheinen ankündigte.«
»Hör auf zu nörgeln, Amelia!«
Ich warf Emerson einen vorwurfsvollen und unserem Sohn einen vielsagenden Blick zu. Ramses lauschte uns interessiert mit zusammengekniffenen Augen. Emersons Lippen verzogen sich zu einem zuckersüßen Lächeln. »Haha. Deine Mama und ich scherzen nur, Ramses. Sie nörgelt nie; und selbst wenn sie es täte, wäre ich keinesfalls so unhöflich, es zu erwähnen.«
»Haha«, entfuhr es Ramses.
»Wie ich bereits andeutete«, erwiderte Emerson und wandte den Kopf, so daß Ramses seine Verärgerung nicht bemerkte, »ich kann mich nur wundern, Amelia, solltest du diesen gräßlichen Ameisenhaufen menschlichen Ungemachs plötzlich schätzen, nur weil du –«
»Wo denkst du hin«, fuhr ich ihm ins Wort. »Wir sind alle etwas angeschmuddelt. Ramses, deine Nase … So ist es besser. Wo ist die Katze Bastet?«
»In der Kabine natürlich«, sagte Emerson. »Sie verfügt über mehr Verstand, als sich in dieser verpesteten Luft an Deck zu wagen.«
»Dann sollten wir uns zurückziehen und die letzten Vorbereitungen für die Ausschiffung treffen«, schlug ich vor. »Ramses, hast du Bastets Halsband? Vergiß nicht, die Leine an deinem Handgelenk zu befestigen, und erlaube ihr nur ja nicht …« Doch mit der Gewandtheit eines Aals hatte Ramses sich bereits aus meinem Griff befreit und war verschwunden.
Die tiefhängende Wolkendecke war immer noch genauso schwarz, als wir erneut an Deck standen, doch für mich hellte sie sich beim Anblick der uns auf dem Dock Erwartenden auf: Emersons geliebter Bruder Walter, seine Gattin Evelyn, meine liebste Seelenverwandte und Schwägerin; unsere treue Hausangestellte Rose und unser ergebener Diener John. Sobald sie uns sahen, winkten sie lachend und begrüßten uns unter lautem Zurufen. Es berührte mich ganz besonders, daß Evelyn trotz des gräßlichen Wetters gekommen war. Sie verabscheute London, und auf dem schmutzigen Dock wirkte ihre zierliche blonde Schönheit ziemlich fehl am Platz.
Wie so oft hatte mein geliebter Emerson den gleichen Gedanken wie ich, auch wenn er ihn beileibe nicht so geschickt in Worte zu kleiden wußte. Intensiv seine Schwägerin musternd, wollte er wissen: »Sie ist doch nicht
Weitere Kostenlose Bücher