Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
den lieben Kleinen erzählen«, meinte Evelyn lächelnd. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er irgend etwas sagen würde, was mich verärgerte.«
Bevor ich diese absolut naive Bemerkung kommentieren konnte, nutzte Ramses seine Chance. Hastig schrie er: »Onkel James hat sich im Chalfont House einquartiert!«
»Ramses, ich habe es dir nicht einmal, nein, schon Hunderte Male – was sagtest du gerade?«
»Rose erzählte mir, daß er mit seinem Diener und seinem Gepäck angereist kam und bleiben will. Ich dachte, das interessierte dich, Mama, nachdem ich das offensichtliche Fehlen jeglicher Herzlichkeit bemerken mußte, mit der du und Papa ihn begrüßt –«
»Ah. Ich gestehe, daß ich dankbar für den Hinweis und die Gelegenheit bin, die Konsequenzen in Abwesenheit deines Vaters besprechen zu können. Ich befürchte nämlich, daß er nicht allzu erfreut sein wird.«
»Bitte, mach mir das nicht zum Vorwurf, Amelia«, setzte Evelyn an und rang ihre Hände in ihrem Schoß.
»Mein liebes Mädchen! Wie könnte ich dir deine Gutherzigkeit vorwerfen! Wie ich James kenne, ist er sicherlich einfach mit seinem Gepäck eingezogen und hat sich auf eine verwandtschaftliche Beziehung berufen, die so unerheblich ist wie seine mir gegenüber vermeintlich gehegten Gefühle.« Mir gegenüber nickte eine errötete Rose wie eine Marionette. Ich bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln. »Die Frage ist nur, was hat James vor? Denn, wie es Emerson schon so weise bemerkt hat, er muß irgend etwas im Schilde führen.«
»Du bist überaus zynisch, Amelia«, erwiderte Evelyn zerknirscht. »Mr. Peabody war ganz offen zu mir; er bedauert die unliebsamen Zwistigkeiten zwischen seiner und deiner Familie und wünscht sich die Wiederaufnahme freundschaftlicher Beziehungen –«
»Eine Wiederaufnahme, pah«, entgegnete ich. »Zwischen mir und James hat es nie eine freundschaftliche Beziehung gegeben, geschweige denn zwischen James und Emerson. Allerdings bist du viel zu weltfremd, um einen Heuchler zu entlarven, und viel zu wohlerzogen, um ihm das entsprechend zu erkennen zu geben. Nichts für ungut, ich werde ihn schon loswerden, falls Emerson das nicht bereits gelungen ist.«
Wie sich herausstellte, war Emerson jedoch nicht von James’ Gegenwart in dem Haus informiert, da er vermutlich die ganze Zeit erzählt hatte und Walter oder James nicht zu Wort gekommen waren. In der Tat war ich irgendwie erleichtert, als James der Droschke entstieg (mit welchen Blessuren, möchte ich an dieser Stelle nicht wiedergeben), denn Emerson wäre in der Lage gewesen, den ungebetenen Gast kopfüber aus dem Fahrzeug zu stoßen. Geschmeidig sprang Emerson hinter ihm zu Boden, schüttelte ihm heftig die Hand und wandte sich ab. Dann nahm er Evelyn und mich bei der Hand, führte uns rasch durch das Tor und über den Weg zum Haus hinauf.
Bevor mich Emerson ins Innere bugsieren konnte, bemerkte ich etwas, was meine Gedanken von den Machenschaften meines Bruders ablenkte. Da der Regen stärker geworden war, befanden sich nur wenige Passanten auf der Straße. Lediglich ein Haupt war nicht gegen die Unbilden der Witterung geschützt. Es gehörte zu einem Individuum, das auf dem Parkstreifen auf der gegenüberliegenden Straßenseite verharrte und feuerrotes Haar hatte.
Als er meinen Blick bemerkte, stellte sich besagter Passant auf Zehenspitzen und gestikulierte aufgeregt mit den Händen. Zunächst hob er eine Hand und klemmte den Daumen ein, dann brachte er ein imaginäres Trinkgefäß an seine Lippen, schließlich deutete er mit seinem ausgestreckten Zeigefinger wiederholt in eine bestimmte Richtung. Diese Gesten vollführte er mit großem Ernst und Eifer, bis er irgendwann eine schäbige Mütze auf seinen Kopf stülpte und eilig verschwand.
Mit einem Taktgefühl, das ich ihm beileibe nicht zugetraut hätte, entschuldigte sich James bei Tisch. Nach dem Mittagessen zogen sich Emerson und Walter in die Bibliothek zurück, um dort bis zur Teezeit in ihren ägyptologischen Studien zu schwelgen. Ich überredete Evelyn, sich ein Weilchen hinzulegen (Emersons willkürliche Äußerung über ihren Gesundheitszustand wurde mir von niemand anderem als Evelyn selbst bestätigt); und nachdem ich Ramses verlassen hatte, der Rose Vorträge zu diversen Themen hielt, die diese nicht im geringsten interessierten, konnte ich mich endlich auf das merkwürdige Verhalten von Mr. Kevin O’Connell konzentrieren.
Warum er uns keine schriftliche Mitteilung hinterlassen
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