Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
Kinder«, stellte Emerson fest. »Aber doch nicht ausschließlich auf den Feldern? Wo sind die Handwerker – die Töpfer, Weber und Holzschnitzer?«
Allerdings kannte er die Antwort ebensogut wie ich. Ich hatte schon viele solcher Dörfer erlebt. Die Bewohner verbrachten den Großteil des Tages im Freien, und die Ankunft eines Fremden lockte stets eine neugierige Menschenmenge herbei. Entweder waren diese Leute ungewöhnlich ängstlich oder hatten Befehl erhalten, uns aus dem Weg zu gehen. Möglicherweise waren sie beim bloßen Anblick der Wachen in ihre Hütten geflohen. Hie und da war hinter den verdunkelten Fenstern eine Bewegung wahrzunehmen – offenbar riskierte ein besonders mutiger Dorfbewohner Hölle und Verdammnis, nur um einen Blick auf die Fremden zu erhaschen.
Schließlich mündete die Straße in einen Platz mit einer ummauerten Quelle und einigen Palmen. Hier waren die Häuser ein wenig größer und solider gebaut als diejenigen, an denen wir vorbeigekommen waren. Einige sahen aus wie Geschäfte. Die Eingänge waren mit gewebten Matten verhängt.
»Wir kehren jetzt um«, sagte Murtek. »Es sieht überall so aus. Nicht von Bedeutung.«
»Eigentlich hat er recht, Peabody«, meinte Emerson. »Ich glaube, wir haben genug gesehen.«
Ich wollte schon zustimmen, als sich der Vorhang vor einem Ladeneingang hob und eine kleine Gestalt darunter hindurchschlüpfte. Sie war nicht größer als ein einjähriges, englisches Kind, doch als sie auf uns zugelaufen kam, erkannte ich an ihren gelenkigen Bewegungen, daß sie zwei oder drei Jahre alt sein mußte. Eigentlich sollte ich besser »er« sagen, denn das Geschlecht des Kindes war nicht zu übersehen. Der kleine, braune Körper des Knaben war bis auf eine Perlenschnur unbekleidet, sein Kopf, abgesehen von einer Locke auf der linken Seite, kahlrasiert.
Murtek schnappte nach Luft. Das Kind blieb stehen und steckte einen Finger in den Mund. Da trat einer der Speerträger mit erhobener Waffe vor, und im gleichen Moment stürzte eine Frau aus dem Laden. Sie riß das Kind in ihre Arme, kauerte sich nieder und schützte es mit ihrem Körper.
Mit einem gewaltigen Krachen traf Emersons Faust die Nase des Wachmanns, so daß dieser zurücktaumelte. Ich trat den Soldaten vor mir gegen das Schienbein, drängte mich an ihm vorbei und lief auf Mutter und Kind zu. So groß waren meine Wut und Erregung, daß meine Wortwahl, wie ich befürchte, nicht ganz angemessen war.
»Zerschmettert mein graues Haupt, wenn ihr nicht anders könnt!« schrie ich. »Doch rührt diese Mutter nicht an, wenn euch euer Leben lieb ist!«
»Sehr hübsch, Peabody«, keuchte Emerson. »Obwohl ich bisher noch kein graues Haar auf deinem Kopf entdeckt habe. Oder zupfst du sie etwa aus?«
»Ach, Emerson!« rief ich. »Ach, verdammt! Mein Gott … Murtek! Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«
Jemand mußte das Kommando übernehmen, denn Murtek hielt sich die Augen zu, und die Soldaten liefen wild durcheinander – ein schockierendes Beispiel militärischer Disziplinlosigkeit. Einer von ihnen beugte sich über seinen Kameraden, der mit blutüberströmtem Gesicht am Boden lag. Ein anderer drohte Emerson, der ihn mit bewundernswertem Gleichmut ignorierte, schüchtern mit dem Speer.
Murtek schielte zwischen seinen Fingern hindurch. »Ihr lebt!« rief er aus.
»Ja, und das habe ich auch weiterhin vor«, erwiderte Emerson. »Und du troll dich«, fügte er hinzu, schob den Speer, der auf ihn gerichtet war, beiseite und versetzte dem Soldaten einen kräftigen Schubs.
Murtek verdrehte die Augen gen Himmel. Inzwischen konnte ich genug Meroitisch, um seinen Wortschwall zu verstehen, der in der Hauptsache aus innigen Dankesgebeten an verschiedene Gottheiten bestand. Offenbar entsprach seine Behauptung, er sei für unsere Sicherheit verantwortlich, der Wahrheit. »Aber wer hätte gedacht, daß diese Leute ihr Leben für einen rekkit aufs Spiel setzen?« beendete er seinen Monolog.
Niemand antwortete. Vielleicht übte Murtek ja schon die Erklärung ein, die er seinen Vorgesetzten gegenüber würde abgeben müssen.
Beeindruckt von Emersons befehlsgewohnter Art, stellten sich die Soldaten verlegen in Reih und Glied auf. Auch der Mann, den Emerson geschlagen hatte, stand inzwischen wieder auf den Beinen. Mehr als ein wenig Nasenbluten hatte er nicht davongetragen.
Als ich jemanden an meinen Hosen zupfen fühlte, drehte ich mich um und stellte fest, daß die junge Mutter meine Knie umklammert hielt. Ramses
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