Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
hatten. Sie bestanden aus Holz, hatten schwere Eisenbeschläge und waren groß genug, um einem Elefanten Einlaß zu gewähren. Emerson marschierte schnurstracks darauf zu, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Zwei Wachen eilten ihm voraus und schoben die Türflügel auf.
Das helle Sonnenlicht schien mir in die Augen, so daß ich im ersten Moment wie geblendet war. Als ich wieder etwas sehen konnte, stellte ich fest, daß wir auf einem schmalen Podest oder einer Terrasse standen. Es gab keine Balustrade zwischen der Ebene und dem steilen Abhang darunter, nur eine Reihe lebensgroßer Statuen im altägyptischen Stil. Später hatte ich Gelegenheit, sie näher in Augenschein zu nehmen: die katzenköpfige Bastet und Sekhmet mit dem Löwenkopf, ihr wilderer Gesell; Thoth, der Gott der Weisheit und der Schrift, in Gestalt eines Pavians; Isis, die den kleinen Horus stillt. Doch in diesem Augenblick interessierte mich mehr, was jenseits dieser Terrasse lag. Zum erstenmal sah ich die Stadt des Heiligen Berges, und ich war bitter enttäuscht.
Es war mein Fehler oder vielmehr der meiner ausufernden Phantasie. In meinen Träumen hatte ich die Märchenstadt aus den Legenden gesehen – Mauern aus weißem Marmor und schimmernde goldene Kuppeln, zierliche Minarette, Türme und majestätische Tempel. Doch statt dessen erblickte ich nur ein Tal, geformt wie eine langgezogene, unregelmäßige Ellipse und von schartigen Klippen umgeben, die wegen der hervorstehenden Felsvorsprünge nicht wie schützende Hände, sondern wie Pranken mit Klauen wirkten.
Das Haus, das wir gerade verlassen hatten, lag an einem steilen Abhang mit terrassenförmigen Einschnitten. Wie ich vermutet hatte, schmiegte sich das Gebäude an die Klippen und ging in den Fels über. Unter uns erstreckten sich baumbewachsene Gärten; dazwischen erkannte ich die flachen Dächer weiterer Behausungen. Zur Rechten und zur Linken waren die Abhänge mit ihren terrassenförmigen Einschnitten ähnlich bebaut, so weit das Auge blickte. Einige der Häuser waren von bescheidener Größe, andere so riesig und verschachtelt wie unseres. Mir fiel ein ganz bestimmtes Gebäude auf, das auf einem breiten Plateau etwa in der Mitte des Steilhangs stand. Man konnte keine Einzelheiten daran erkennen, doch seine Ausmaße wiesen darauf hin, daß es sich um etwas Wichtiges handeln mußte, vielleicht um einen Tempel.
Unter mir auf dem Boden des Tals sah ich ein scheinbar typisches afrikanisches Dorf. Einige der Häuser bestanden aus Lehmziegeln, doch die Mehrheit war aus Schilf und Ästen gebaut wie die nubischen tukhuls .Das Dorf nahm nur einen kleinen Teil der langgezogenen Ellipse ein. In der Mitte lag eine von einer Sumpflandschaft umgebene Wasserfläche. Der Rest wurde von Feldern und Weiden eingenommen. Jeder Quadratzentimeter Boden wurde genutzt, selbst die niedrigeren Abhänge waren in Terrassen unterteilt und bepflanzt.
»Ach, du meine Güte«, sagte ich. »Das sieht ja gar nicht aus wie die Märchenstadt Zerzura.«
Emerson hielt sich die Hand über die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen. »Genauso muß der Großteil von Meroë und Napata ausgesehen haben, Peabody. Du glaubst doch nicht, daß die Arbeiter in Palästen wohnten. Was für ein erstaunlicher Ort! Du siehst, wie intensiv hier Landwirtschaft betrieben wird. Wahrscheinlich ernten sie zwei- oder dreimal im Jahr. Aber trotzdem ist mir nicht klar, wovon sie sich ernähren. Bestimmt tauschen sie Lebensmittel mit anderen Stämmen im Westen. Und möglicherweise beschränken sie ihr Bevölkerungswachstum durch …«
»Irgendeine Methode«, unterbrach ich ihn – denn an einige dieser Methoden wollte ich lieber gar nicht denken. »Woher bekommen sie wohl ihr Wasser?«
»Aus Quellen oder Brunnen. Vermutlich liegt der Talboden um einiges tiefer als die umliegende Wüste. Dasselbe Phänomen findet man in Kharga und Siwa und den anderen Oasen im Norden, abgesehen natürlich von den Klippen ringsherum. Nicht unbedingt ein gesundes Klima, Peabody. Sicherlich ist dir schon aufgefallen, daß die Hütten der Armen unten im Tal liegen, während die Behausungen der Oberschicht auf den Abhängen erbaut sind, hoch über der verpesteten Luft des Sumpfes.« Er wandte sich zu Murtek um, der sein liebenswürdiges Gesicht beim angestrengten Versuch, unserem Gespräch zu folgen, zu einer Grimasse verzogen hatte. »Wo ist Euer Haus?«
Der alte Mann streckte den Arm aus. »Dort drüben, verehrter Sir. Ihr könnt sein Dach sehen.«
Er fuhr
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