Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
Aufmerksamkeit und eine feste Hand an seinem Kragen. Aber ehe ich dazu kam, sagte Yussuf auf arabisch: »Der junge Effendi ist dort entlanggegangen.«
Vor sich hin murmelnd rannte Emerson in die Richtung los, in die Yussuf gezeigt hatte. Ich folgte. Bald hatten wir den Übeltäter gefunden. Er kauerte vor einem der Verkaufsstände und unterhielt sich angeregt mit einem Mann, der in ein faltenreiches Gewand oder einen Umhang gehüllt war. Einen Zipfel hatte er sich um den Kopf geschlungen, um diesen vor der Sonne zu schützen.
»Ramses!« brüllte Emerson, worauf Ramses aufsprang und sich zu uns umwandte. In der Hand hielt er einen kurzen hölzernen Spieß, an dem Fleischstücke unbestimmbarer Herkunft steckten. Er winkte mir zu und schluckte herunter, was er gerade kaute. »Mama, Papa, ich habe gerade ein höchst interessantes …«
»Das sehe ich«, erwiderte Emerson. » Essalâmu ’aleikum ,Freund.«
Der Mann war langsam und würdevoll, so daß es fast hochnäsig wirkte, ebenfalls aufgestanden. Anstatt zum traditionellen arabischen Gruß Stirn, Brust und Lippen zu berühren, neigte er nur leicht den Kopf und hob in einer eigenartigen Geste die Hände. »Sei gegrüßt, Emerson Effendi .Und Gesundheit und ein langes Leben wünsche ich der Herrin deines Hauses.«
»Sie sprechen ja unsere Sprache!« rief ich aus.
»Nur einige Worte, Herrin.« Er schlüpfte aus seinem Umhang, der nicht viel mehr war als ein Stoffstreifen, und legte ihn sich um die Schultern wie eine Stola. Darunter trug er nur ein paar weite knielange Hosen, die seine schlanke athletische Gestalt und seine sehnigen Glieder vollendet zur Geltung brachten. An den Füßen hatte er rote Ledersandalen mit einer langen, nach oben gebogenen Spitze. Solche Sandalen wiesen bei einem Nubier auf eine gehobene Stellung hin, denn die meisten hier gingen barfuß. Allerdings war dieser Mann auch kein gewöhnlicher Nubier, obwohl seine Haut eine dunkle, rotbraune Färbung hatte. Seine markanten, ebenmäßigen Züge ließen ihn einem Baggara ähneln, doch sein schwarzes Haar war kurz geschoren.
»Er spricht einen höchst interessanten Dialekt, der mir unbekannt ist«, sagte Ramses. »Ich mußte ihn einfach fragen, woher …«
»Über deine Unfähigkeit, der Verlockung unbekannter Dialekte zu widerstehen, sprechen wir später, Ramses«, sagte ich. »Und wirf das …«
Zu spät – der Spieß war leer.
Der Mann wiederholte seine Geste. »Ich gehe nun. Leben Sie wohl.« Dann senkte er den Kopf und richtete an Ramses ein paar Worte in einer Sprache, die mir unbekannt war. Ramses besaß die Frechheit zu nicken, als habe er alles verstanden.
»Was hat er gesagt?« fragte ich, während ich meinen Sohn packte. »Erzähl mir nicht, du hättest in fünf Minuten genug von dieser Sprache gelernt, um zu …«
»Du bist im Begriff, dir selbst zu widersprechen, Amelia«, sagte Emerson. Stirnrunzelnd sah er zu, wie Ramses’ neuer Bekannter sich würdig, aber rasch aus dem Staub machte. »Wenn er nicht genug von dieser Sprache gelernt hat, um zu verstehen, was der Mann gesagt hat, kann er es dir auch nicht erzählen. Äh … was hat er denn gesagt, Ramses?«
Ramses zuckte die Achseln und sah dabei genauso geheimnisvoll aus wie die Araber, die diese ärgerliche Geste meisterhaft beherrschen. »Entschuldige, Papa, entschuldige, Mama, daß ich davongelaufen hin. Ich werde es nicht wieder tun.«
»Komm jetzt«, meinte Emerson, ehe ich die Zweifel zum Ausdruck bringen konnte, die dieses Versprechen verständlicherweise in mir hervorrief. »Wir haben zu lange getrödelt und unseren Führer verloren. Aber wir müssen ja nur auf diesem Weg weitergehen. Auf der anderen Seite des Marktes, sagte Yussuf … Meiner Meinung nach, Peabody, kann man Ramses kaum zum Vorwurf machen, daß er fasziniert war. Ich habe diesen Dialekt auch noch nie gehört, und trotzdem kamen mir in seinen letzten Sätzen ein oder zwei Wörter merkwürdig bekannt vor.«
»Dann ist er also kein Baggara?«
»Ganz sicher nicht. Diese Sprache verstehe ich ein wenig. Hier am oberen Nil gibt es viele Menschen, die groß und gut gebaut sind, beispielsweise die Dinka und die Shilluk. Vielleicht stammt er aus dieser Gegend. Nun denn, wir gehen besser weiter. Ramses, bleib bei deiner Mama.«
Die Unterkünfte, die Yussuf aufgetan hatte, entsprachen in etwa meinen Erwartungen – sie waren für menschliche Wesen unbewohnbar. Ganz gewiß wimmelte es in dem Dach aus Palmblättern von Ratten, und die Insekten waren
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