Amelia Peabody 07: Die Schlange, das Krokodil und der Tod
eindrucksvolle Bild. Ohne meine Geistesabwesenheit zu bemerken, hatte Evelyn inzwischen weitergesprochen. »Erinnerst du dich noch, wie er an jenem Tag aussah, Amelia – an jenem Tag, an dem er mir seine Liebe erklärte? Bleich und stattlich wie ein junger Gott hielt er meine Hand und nannte mich die tapferste aller Frauen. Ein bröckeliger Papyrus, kein Stein von Rosetta hätte mir damals den Platz in seinem Herzen streitig gemacht. Trotz Gefahren, Zweifeln und Strapazen war es eine wunderbare Zeit! Inzwischen erinnere ich mich sogar schon gerne an den Kerl mit der lächerlichen Mumienverkleidung.«
Ich seufzte tief. Evelyn sah mich überrascht an. »Du auch, Amelia? Was könntest du bedauern? Du hast alles gewonnen, ohne etwas zu verlieren. In jeder Zeitung, die ich aufschlage, steht etwas über deine Eskapaden – entschuldige, Abenteuer.«
»Ach, die Abenteuer«, winkte ich ab. »Daß es dazu kommt, ist mehr oder weniger selbstverständlich. Emerson zieht sie an.«
»Emerson?« Evelyn lächelte.
»Vergiß nicht, Evelyn: Lord Blacktower hat sich an Emerson gewandt, um seinen vermißten Sohn ausfindig zu machen; Emerson enttarnte den Verbrecher in dem Fall mit der Mumie aus dem Britischen Museum. Und an wen wandte sich Lady Baskerville, als sie einen Mann suchte, der die Ausgrabungen ihres Gatten weiterführen sollte? An Emerson, den angesehensten Wissenschaftler seiner Zeit.«
»So habe ich mir das noch nie überlegt«, gab Evelyn zu. »Du hast recht, Amelia. Aber du hast mir nur recht gegeben. Dein Leben ist so voller Aufregung und Abenteuer, die in meinem fehlen …«
»Richtig. Doch es ist nicht wie früher, Evelyn. Darf ich es dir gestehen? Ich glaube schon. Ich träume genauso wie du von jenen längst vergangenen Tagen, als ich noch Emersons ein und alles war, das einzige, was er bewunderte.«
»Mein liebe Amelia …«
Ich seufzte wieder. »Amelia nennt er mich kaum noch, Evelyn. Wie gut und mit wieviel Freude erinnere ich mich an seinen gereizten Ton, wenn er mich mit diesem Namen ansprach. Inzwischen heißt es nur Peabody – meine liebe Peabody, Peabody, mein Schatz …«
»In Amarna hat er dich auch Peabody genannt«, sagte Evelyn.
»Ja, aber in einem anderen Ton! Was anfangs als Provokation gedacht war, ist heute ein Ausdruck zufriedener, träger Zuneigung. Er war so männlich damals, so romantisch …«
»Romantisch?« wiederholte Evelyn zweifelnd.
»Du hast deine liebevollen Erinnerungen, Evelyn, ich habe meine. Wie gut erinnere ich mich noch an den Schwung seiner schönen Lippen, als er mir sagte: ›Sie sind nicht dumm, Peabody, auch wenn Sie eine Frau sind.‹ Wie seine blauen Augen funkelten an diesem nie vergessenen Morgen, als er dank meiner Pflege den Höhepunkt des Fiebers überstanden hatte. Er knurrte: ›Danke, daß Sie mir das Leben gerettet haben. Und jetzt verschwinden Sie.‹« Ich suchte nach einem Taschentuch. »Oje. Entschuldige, Evelyn. Ich hatte nicht vor, mich so von meinen Gefühlen hinreißen zu lassen.«
Mitleidig und schweigend tätschelte sie mir die eine Hand, während ich mir mit der anderen das Taschentuch auf die Augen drückte. Die Stimmung verflog. Ein Kreischen von Willie und noch eines von seinem Zwillingsbruder wiesen darauf hin, daß zwischen den beiden wieder einmal eine jener Raufereien im Gange war, die ihr liebevolles Verhältnis zueinander kennzeichneten. Raddie, der hingelaufen war, um die Kämpfenden zu trennen, taumelte zurück und hielt sich die Nase. Evelyn und ich stießen gleichzeitig einen Seufzer aus.
»Glaube nicht, daß ich es bereue«, sagte sie leise. »Ich würde keine Locke von Willies Kopf gegen mein Leben von damals eintauschen. Ich liebe meine Kinder sehr. Nur – nur, liebe Amelia, es sind so viele!«
»Ja«, meinte ich hilflos. »Das stimmt.«
Ramses war näher an Nefret herangerückt. Das Bild war unwiderstehlich und gleichzeitig beunruhigend: die Göttin und ihr Hohepriester.
Und sie würden bei mir sein, Tag und Nacht, sommers und winters, in Ägypten und in England, und das noch viele Jahre lang.
2. Kapitel
Auch wenn man entschlossen ist, sich würdevoll ins Martyrium zu fügen, ist ein Tag Aufschub nicht zu verachten.
Ich glaube an die Kraft von Gebeten; als Christin bin ich dazu verpflichtet. Allerdings glaube ich als rational denkender Mensch wie auch als Christin (das ist nicht zwangsläufig unvereinbar, was auch immer Emerson dazu sagen mag) nicht, daß der Allmächtige unmittelbar Anteil an meinen persönlichen
Weitere Kostenlose Bücher