Amelia Peabody 07: Die Schlange, das Krokodil und der Tod
Belangen nimmt. Es gibt zu viele andere Menschen, um die er sich kümmern muß, und die meisten von ihnen benötigen seine Hilfe weitaus dringender als ich. Jedoch bin ich geneigt zu glauben, daß eines Nachmittags, einige Monate nach dem oben geschilderten Gespräch, ein gütiges Wesen das Gebet erhörte, das ich nicht einmal in meinen geheimsten Gedanken in Worte zu fassen gewagt hatte.
Wie schon so viele Male zuvor lehnte ich an der Reling des Dampfers und wartete gespannt auf das Auftauchen der ägyptischen Küste. Und wieder einmal stand Emerson neben mir und brannte wie ich darauf, die neue Ausgrabungssaison in Angriff zu nehmen. Doch zum erstenmal in ach so vielen Jahren waren wir beide allein.
Allein! Die Schiffsbesatzung und die übrigen Passagiere zähle ich nicht. Wir waren ALLEIN. Ramses hatte uns nicht begleitet. Er kletterte also nicht – trotz Lebensgefahr – auf der Reling herum, er stachelte die Mannschaft nicht zur Meuterei auf; er versuchte nicht, in seiner Kabine Dynamit herzustellen. Denn er war nicht an Bord, sondern in England, und wir … wir waren ganz weit fort. Ich hätte mir nicht träumen lassen, das je zu erleben. Ich hätte nie zu hoffen gewagt, geschweige denn darum gebetet, daß ein solcher Glücksfall jemals eintreten möge.
Das Walten der Vorsehung ist wahrlich unergründbar, denn ausgerechnet Nefret, von der ich eigentlich zusätzliche Schwierigkeiten erwartet hatte, war für dieses glückliche Ereignis verantwortlich.
*
Denn einige Tage, nachdem Walter, Evelyn und die Kinder abgereist waren, hatte ich Nefret eingehend beobachtet und war zu dem Schluß gekommen, daß die bösen Vorahnungen, die mich an jenem schönen Juninachmittag beschlichen hatten, nur einer melancholischen Stimmung zu verdanken gewesen waren. Evelyn war an dem Tag in einer seltsamen Laune gewesen; ihr Pessimismus hatte mich angesteckt. Ganz offensichtlich kam Nefret gut zurecht. Sie hatte gelernt, wie man mit Messer und Gabel umging, mit dem Knöpfhaken hantierte und eine Zahnbürste benutzte. Sie hatte sogar begriffen, daß es ungehörig war, bei Tisch Gespräche mit den Bediensteten zu führen. (Damit war sie Emerson einen Schritt voraus, der sich dieser allgemein anerkannten Umgangsform nicht unterordnen konnte oder wollte.) Wenn sie ihre geknöpften Stiefel und zierlichen weißen Kleidchen trug und ihr Haar mit Bändern zurückgebunden hatte, sah sie wie ein hübsches englisches Schulmädchen aus. Sie zog Stiefel an, obwohl sie sie verabscheute, und auf meine Bitte hin ließ sie die prächtigen nubischen Kleider im Schrank verschwinden. Nie äußerte sie ein Wort der Klage oder des Widerspruchs gegen einen meiner Vorschläge. Also beschloß ich, nun den nächsten Schritt zu wagen. Es war an der Zeit, Nefret in die Gesellschaft einzuführen, was selbstverständlich langsam und behutsam vor sich gehen mußte. Und welch bessere und liebenswürdigere Gefährtinnen, überlegte ich, konnte es geben als Mädchen ihres Alters?
Rückblickend betrachtet muß ich zugeben, daß mir ein geradezu lachhafter Denkfehler unterlief. Allerdings möchte ich zu meiner Verteidigung anführen, daß ich sehr wenig Kontakt mit Mädchen dieses Alters hatte. Deshalb konsultierte ich meine Freundin, Miss Helen McIntosh, die eine nahegelegene Mädchenschule leitete.
Helen war Schottin, unverblümt und energisch; alles an ihr war braun – von ihrem schon leicht angegrauten Haar bis zu ihren praktischen Tweedkostümen. Als sie meine Einladung zum Tee annahm, machte sie kein Hehl aus ihrer Neugier auf unser neues Mündel.
Ich setzte alles daran, daß Nefret einen guten Eindruck machte, und beschwor sie, sich nicht zu verplappern und dadurch Zweifel an der Geschichte zu wecken, die wir verbreitet hatten. Vielleicht habe ich es übertrieben. Die ganze Zeit über saß Nefret wie eine Statue der Schicklichkeit da, hielt die Augen gesenkt und die Hände gefaltet und sprach nur, wenn sie dazu aufgefordert wurde. Das Kleid, das sie auf meine Bitte hin trug, paßte hervorragend zu ihrem Alter – weißer Batist mit gerüschten Manschetten und einer breiten Schärpe. Ich hatte ihr die Zöpfe aufgesteckt und ihr große weiße Schleifen ins Haar gebunden.
Nachdem ich Nefret gestattet hatte, sich zurückzuziehen, blickte mich Helen mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Meine liebe Amelia«, sagte sie, »was haben Sie nur getan?«
»Nur das, was christliche Nächstenliebe und Anstand gebieten«, erwiderte ich trotzig. »Welchen Fehler
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