Amelia Peabody 08: Der Ring der Pharaonin
– nämlich bei der Polizei. Ich verabscheue Unehrlichkeit und greife nur dazu, wenn die Umstände es erfordern).
Mein Widerwille gegen Unehrlichkeit zwingt mich auch hinzuzufügen, daß Alis Leiche nicht aus dem Nil gefischt wurde – und zwar deshalb, weil sie nie darin gelegen hatte. Ali war an dem Tag, nachdem ich seine Abwesenheit bemerkt hatte, wieder zur Arbeit erschienen und hatte behauptet, er sei krank gewesen. Mein Interesse an seiner Gesundheit schien ihn sehr zu rühren (obwohl es ihn nicht daran hinderte, ein zusätzliches Bakschisch zu verlangen). Die Information, die er mir gab, war jedoch kein Bakschisch wert. Er habe unseren Besucher nicht weggehen sehen und in jener Nacht auch nichts Außergewöhnliches bemerkt. Die ganze Zeit über sei er mit Botengängen für die anderen Gäste beschäftigt gewesen.
All das war sehr entmutigend. Ich konnte nur hoffen, daß sich bald etwas Aufschlußreiches ereignen würde.
Doch die Freude, endlich wieder an Bord eines Schiffes zu sein, lenkte mich ab. Außerdem erwarteten mich unzählige Pflichten – ich mußte Gardinen aufhängen, mit dem Koch die Speisenfolge besprechen und dem Steward beibringen, wie man einen ordentlichen Tee kochte –, so daß ich den ganzen Tag auf Trab war. Überdies machte mir die allgemeine Gereiztheit der Mannschaft zu schaffen. Der Monat Ramadan hatte begonnen; zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang durften die Männer weder essen noch trinken.
Und wie ich schon häufig feststellen mußte, ist Fasten der guten Laune abträglich. Die ungehemmte Völlerei nach Sonnenuntergang hatte nicht minder schädliche Auswirkungen. Doch das alles gehörte in Ägypten eben mit dazu, und ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt.
Ich hatte schon damit gerechnet, daß Emerson seine Entscheidung nach einigen Tagen bereuen und sich über unser langsames Reisetempo beschweren würde. Aber er hatte dafür gesorgt, daß wir von einem Schlepper begleitet wurden. Das war zwar nicht romantisch, jedoch der alten Sitte vorzuziehen, das Boot bei Flaute mittels Muskelkraft zu ziehen – vor allem deshalb, weil Emerson die Angewohnheit besaß, »den armen Burschen« halbnackt zur Hand zu gehen.
Er beklagte sich nicht, denn er war voll und ganz mit geheimnisvollen Papieren beschäftigt, denen er sich den ganzen Tag und die halbe Nacht lang widmete. Zu meinem großen Ärger verweigerte er mir jegliche Auskunft. »Ich erkläre dir alles, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, Peabody«, sagte er nur. »Ich will meine Gedanken ordnen, ehe ich sie dir mitteile.« Und damit mußte ich mich zufriedengeben.
Wenn meine Pflichten es zuließen, saß ich auf dem oberen Deck. Jenseits von Kairo gibt es nicht viele Pyramiden zu sehen, aber beim Anblick des langsam vorbeigleitenden Ufers, der grünen Felder und der malerischen Klippen wird der Beobachter von einer trägen Zufriedenheit ergriffen.
Auch Nefret verbrachte einen Großteil der Zeit hier oben, las und lernte ihre Lektionen. Ganz bestimmt hing auch sie jenen Tagträumen nach, die allen Mädchen ihres Alters im Kopf herumgehen. Ich konnte nur hoffen, daß diese sich nicht um den schurkischen Sir Edward rankten.
Die Stewards schlugen sich regelrecht darum, sie zu bedienen, denn sie lächelte sie ebenso höflich an wie alle anderen. Nefret hatte ihr ganzes Leben unter dunkelhäutigen Menschen zugebracht. Einige waren ihre Untergebenen gewesen, andere hatten Macht über sie gehabt, und sie war finstersten Schurken und edelmütigen Männern begegnet. Deshalb hatte sie etwas gelernt, was so mancher niemals begreift: Man muß jeden einzelnen nach seinen persönlichen Verdiensten beurteilen und darf nicht von oberflächlichen körperlichen Merkmalen auf den Charakter des Betreffenden schließen.
Obwohl ich viel zu tun hatte, vernachlässigte ich meine ägyptologischen Studien nicht. Inzwischen war ich für meine Übersetzungen ägyptischer Märchen und Legenden bekannt, und in jenem Jahr hatte ich mir wieder einen Text vorgenommen. Täglich arbeitete ich einige Stunden neben Emerson im Salon. Durch meine wachsenden Hieroglyphenkenntnisse kühn geworden, hatte ich beschlossen, mich auch am Hieratischen zu versuchen, der Kursivschrift, die man – anstelle der dekorativen, aber umständlichen Bilderschrift auf Kunstgegenständen – für Mitteilungen auf Papyrus benutzte. Die hieratischen Schriftzeichen des Papyrus, für den ich mich entschieden hatte, waren besonders elegant und in ihrer Form den Hieroglyphen
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