Amelia Peabody 09: Ein Rätsel für Ramses
Sehr lobenswert.«
Wir hatten unseren Porridge bereits aufgegessen, bevor die Jungen auftauchten, wie immer zu zweit. Ich bedachte Ramses mit einem mißtrauischen Blick. Meiner Meinung nach hatte die Entfernung seines Schnurrbarts sein Aussehen verbessert, denn er sah seinem Vater jetzt noch ähnlicher, und Emerson ist der attraktivste Mann überhaupt. Es war allerdings nicht einfacher geworden, seine Gedanken zu lesen, aber die Zeichen von Übernächtigung blieben dem liebenden Auge einer Mutter nicht verborgen.
»Hast du letzte Nacht das Haus verlassen?« fragte ich.
»Ich habe dir versprochen, es nicht zu tun, Mutter.«
»Das beantwortet nicht meine Frage.«
»Ich habe das Haus gestern nacht nicht verlassen.« Er warf einen Stapel Papier auf den Tisch und setzte sich. »Ich habe gearbeitet. Du hast mich doch, glaube ich, nach dem Traumpapyrus gefragt? Hier ist die Übersetzung, falls du Lust hast, sie zu lesen.«
Ich griff nach dem Papier, und Mrs. Jones fragte neugierig: »Ein Traumpapyrus? Es war mir nicht bewußt, daß es so etwas gibt.«
»Es handelt sich um einen recht unverständlichen Text«, sagte Ramses und reichte ihr höflich die Marmelade. »Onkel Walter erhielt im letzten Jahr Photos davon vom Britischen Museum, und er war so nett, sie mir zu leihen.«
Ich rätselte über Ramses’ Handschrift, die eine frappierende Ähnlichkeit mit den Hieroglyphen des Originaltextes aufwies. Am linken Rand der Seiten wiederholten sich ständig die Worte »Wenn ein Mensch sich selbst in einem Traum sieht«. Diesem einführenden Satz folgte jedesmal eine kurze Beschreibung: »Einen Ochsen tötend«, »Auf eine Palette schreibend«, »Blut trinkend« sowie »Eine Sklavin fangend« waren einige davon. Die Interpretation bestand aus den Worten »gut« oder »schlecht«, gefolgt von einer kurzen Erklärung.
»Einiges davon ist recht verständlich«, sagte ich. »›Eine Sklavin fangend‹ ist gut. ›Es bedeutet etwas, was ihm Befriedigung verschafft.‹ Das könnte man logischerweise annehmen. Aber warum ›Exkremente essend‹ gut sein soll … Oh. ›Es bedeutet, seine Besitztümer in seinem Hause zu essen‹.«
»Faszinierend«, sagte Mrs. Jones. »Wenn Sie gestatten, Mrs. Emerson, würde ich mir gerne eine Abschrift machen. Es würde meiner Arbeit ein gewisses Prestige verleihen, wenn ich in der Lage wäre, Träume anhand altägyptischer Dogmen zu interpretieren.«
»Sie werden selektiv vorgehen müssen«, sagte ich trocken. »Hier ist eine Erklärung über die Enthüllung … Du meine Güte! Warum sollte irgend jemand davon träumen, das mit einem Schwein zu tun?«
»Ist es gut oder schlecht?« fragte Nefret unschuldig.
»Schlecht. Es bedeutet, seiner Besitztümer beraubt zu werden.«
Zur Erheiterung, wenn nicht sogar zur Erbauung meiner Zuhörer las ich noch einige weitere vor – wobei ich die Anstößigeren mied. Nefret schien besonders fasziniert, und als ich die Erklärung dazu vorlas, wenn jemand sich selbst verschleiert sieht, rief sie: »Wie seltsam! Heute nacht habe ich davon geträumt, daß ich die Rolle der Prinzessin Tasherit spielte, die in Musselin und Leinen gehüllt war. Was bedeutet das, Tante Amelia?«
»Offensichtlich«, sagte Emerson mit dem toleranten Lächeln eines Mannes, der über solche Spinnereien erhaben ist, »kränkt es dich immer noch, daß man dir die Rolle nicht überlassen hat.«
Meiner Meinung nach – und der von Professor Freud, dessen Arbeiten ich mit Interesse gelesen hatte – bedeutete es, daß sie etwas zu verbergen versuchte. Da ich sie nicht in Verlegenheit bringen wollte, las ich die ägyptische Interpretation vor. »Es bedeutet, daß man Feinde aus seinem Umfeld entfernt.«
»Gut«, sagte Nefret lachend.
»Genug von diesem Unsinn«, sagte Emerson. Er warf seine Serviette auf den Tisch. »Ich gehe zum Grab. Kommt jemand mit?«
»Ich komme später nach, Emerson«, erwiderte ich. »Du weißt, daß Mrs. Jones und ich beabsichtigen, heute morgen bei Colonel Bellingham vorzusprechen.«
Ramses deutete an, daß er, das Einverständnis seines Vaters vorausgesetzt, David und Nefret zum Tempel von Luxor mitnehmen wollte, um weitere Photos zu machen.
»Sofern das der wahre Grund ist«, sagte Emerson und sah seinen Sohn scharf an. »Paß auf, daß nicht wieder jemand mit Felsbrocken nach dir wirft.«
»Ich werde mein Bestes tun, Sir«, sagte Ramses. »Oder nach Nefret.«
»Ich werde mein Bestes tun«, wiederholte Ramses mit einem Seitenblick auf seine
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