Amelia Peabody 09: Ein Rätsel für Ramses
Minuten der ungeteilten Wiedersehensfreude.«
»Hmhm«, meinte Emerson.
Auch andere warteten darauf, ihn und Ramses zu umarmen: Daoud, Abdullahs Neffe und zweiter Kommandoführer; Selim, Abdullahs jüngster Sohn; Yussuf und Ibrahim und Ali und die anderen Männer, die in all den Jahren zuverlässige Freunde und Arbeiter gewesen waren. Als ich ans Ufer trat, reichte mir Abdullah sogleich seine Hand. Sein dunkles Gesicht wirkte ernst und würdevoll, und er lächelte nicht, aber in seinen Augen stand Zuneigung.
Emerson unterbrach die Umarmungen und Willkommensrufe. Er begrüßte Abdullah wie üblich mit einem herzlichen Handschlag und einer lauten Beschwerde. »Verflucht, Abdullah, wo sind die Pferde?«
»Pferde?« Abdullahs Blick veränderte sich.
»Große Tiere mit vier Beinen. Man kann darauf reiten«, sagte Emerson mit gräßlichem Sarkasmus. »Die Pferde, die wir jede Saison anmieten. Wie sollen wir denn zu unserem Haus gelangen?«
»Ach, diese Pferde.«
»Das Haus ist doch fertig, oder?« forschte Emerson. »Ich habe euch telegraphiert, wann wir eintreffen.«
»Fertig? Oh, ja, Emerson.«
Ich hatte Mitleid mit Abdullah – und mit mir. Emerson hätte das altbekannte Ablenkungsmanöver erkennen müssen, welches darauf hinwies, daß der Gefragte in der Tat nicht das getan hatte, worum man ihn gebeten hatte.
Das Problem lag nicht darin, daß Abdullah faul oder inkompetent war. Das Problem lag darin, daß Abdullah ein Mann war. Er konnte allen Ernstes nicht verstehen, daß ich wegen Schmutz, Spinnweben, Ungeziefer und Betten, die ein Jahr lang nicht ausgelüftet worden waren, ein solches Aufheben veranstaltete. Er hatte natürlich mit einem Donnerwetter gerechnet, aber er hoffte – mannhaft –, es so lange wie möglich hinauszögern zu können.
»Es ist ohnehin zu spät, um unsere ganzen Habseligkeiten jetzt mitzuschleppen, Emerson«, sagte ich – und vernahm einen Seufzer der Erleichterung von Abdullah, so leise, daß er mir, wenn ich nicht damit gerechnet hätte, entgangen wäre. »Wir bleiben heute nacht noch an Bord.«
Also veranstalteten wir mit unseren Freunden ein fröhliches kleines Willkommensfest in unserem Salon. Es ging zunächst sehr lebhaft zu, denn alle sprachen auf einmal. Daoud wollte Neuigkeiten von Evelyn und Walter erfahren, die er sehr bewunderte. Selim brabbelte von der Gesundheit, Schönheit und Intelligenz seiner Kinder (meiner Meinung nach hatte er für einen Mann unter zwanzig viel zu viele davon; aber das ist die arabische Mentalität). David erstattete seinem Großvater (einen zweifellos entschärften) Bericht von seinem Sommeraufenthalt bei Scheich Mohammed. Emerson fragte nach dem Grab und den letzten Aktivitäten der umtriebigen Grabräuber von Gurneh.
Schließlich bildeten sich neue Gruppen. Ich beobachtete, wie Selim mit David und Ramses in einer Ecke verschwand, und schloß aus ihrem gedämpften Lachen und den leisen Stimmen, daß er gerade eine weitere, unbereinigte Version ihrer Sommerabenteuer erfuhr.
Abdullah hatte sich zu mir auf das Sofa gesellt. Eine Zeitlang saßen wir schweigend nebeneinander. Als es dunkler wurde, glättete das diffuse Licht einer nahen Laterne seine harten Gesichtszüge, und ich dachte, wie merkwürdig es doch war, daß ich mich in der Gesellschaft eines Menschen so wohl fühlen konnte, der sich von mir in jeder Hinsicht unterschied – in Geschlecht, Alter, Religion, Nationalität und Kultur. Ich erinnerte mich noch sehr gut an seine abschätzige Frage während unserer ersten Ausgrabungssaison in Ägypten: »Was ist denn eine Frau, daß sie uns solche Probleme bereiten könnte?« Er hatte in den darauffolgenden Jahren beachtliche Probleme mit mir gehabt, hatte sein Leben mehr als nur einmal für mich riskieren müssen. Und mein ursprüngliches Mißtrauen ihm gegenüber hatte sich in tiefe Hochachtung und Zuneigung verwandelt.
Ich konnte nicht sagen, wie alt Abdullah war. Sein Bart, der bei unserer ersten Begegnung von grauen Fäden durchzogen gewesen war, war jetzt schlohweiß, und er ging mittlerweile etwas gebückt. Emerson hatte ihn verschiedentlich davon zu überzeugen versucht, daß er sich zur Ruhe setzen sollte, aber er brachte es einfach nicht übers Herz, darauf zu bestehen. Abdullah war stolz auf seine Stellung, und das aus gutem Grund. Er war der erfahrenste Rais in ganz Ägypten, und ich zweifelte nicht daran, daß er eine archäologische Ausgrabung kompetenter hätte durchführen können als manche der selbsternannten
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