Amelia Peabody 09: Ein Rätsel für Ramses
Nervenzusammenbruch«, hauchte ich. »Gütiger Himmel.«
»Du hattest natürlich daran gedacht«, sagte Ramses und beobachtete mich.
»Selbstverständlich«, gab ich automatisch zur Antwort.
Ich hatte tatsächlich nicht daran gedacht, und die Vorstellung war so beunruhigend, daß ich, als Ramses darauf hinwies, daß es fast Zeit für den Tee wäre und Emerson sicherlich nach mir suchte, das Thema nicht weiter verfolgte. Nachdem er seine Hosenbeine in die Stiefel gesteckt hatte, begleitete Ramses mich höflich in den Salon, wo wir Emerson vorfanden, der, genau wie Ramses es vorhergesagt hatte, ungehalten seinen Tee einforderte.
Im Verlaufe der nächsten Tage dachte ich eingehender über Ramses’ Theorie nach und fand sie schließlich überzeugend. Das erklärte Enids merkwürdiges Verhalten und die abseitige Position von Mrs. Whitney-Jones. Nervenzusammenbrüche wurden von den Betroffenen häufig als peinlich empfunden. Donald war es selbst vor so alten Bekannten wie uns möglicherweise unangenehm, den wahren Gesundheitszustand seiner Frau zu erkennen zu geben.
Nach reiflicher Überlegung beschloß ich, Ramses nicht mit der anderen Sache zu konfrontieren, die ich ihn eigentlich hatte fragen wollen. Ich glaubte keinen Augenblick lang an seine Version der Geschichte im Park. Meine gut entwickelten Mutterinstinkte versicherten mir, daß er zwar die Wahrheit gesagt, diese aber recht lückenhaft gelassen hatte. Allerdings hatte Emerson in zwei Punkten recht: die Bellinghams gingen uns nichts an, und Ramses’ Beziehungen zum weiblichen Geschlecht überließ ich am besten seinem Vater – jedenfalls im Augenblick.
Es gab genug, womit ich meinen Verstand während der verbleibenden Reise noch beschäftigen konnte – mit den üblichen Familienkrisen, Gesprächen von Frau zu Frau mit Nefret, Diskussionen über unsere Pläne für den Winter – und mit der Auffrischung meiner Erinnerung, wie die Topographie im Tal der Könige beschaffen war. Emerson hatte zugegeben, daß unsere Vermutungen der Richtigkeit entsprachen; es waren die kleineren, unbedeutenderen Gräber, die er in dieser Saison untersuchen wollte. Die Vorstellung hätte mich deprimiert, wenn da nicht dieses geheimnisvolle Grab 20-A gewesen wäre. Zu meinem Leidwesen fand ich weder einen Hinweis auf dieses Grab, noch war es auf der einzigen Landkarte, die ich hatte finden können, verzeichnet. Die Landkarte war eine sehr alte, die in Lepsius’ Gesamtwerk von 1850 enthalten ist, deshalb entschied ich, daß er das Grab möglicherweise übersehen hat.
Ramses war genausowenig erbaut von nichtssagenden Gräbern ohne Inschriften wie ich. Aber er wäre nicht Ramses gewesen, wenn ihm nicht eine gelungene Entschuldigung eingefallen wäre, um sich der Aufgabe zu entziehen.
»Wenn die Gräber keine Inschriften tragen, gibt es für mich nichts zu tun, Vater. Nefret kann die Photos machen und David die Pläne und Skizzen, und die Männer, allen voran Abdullah, können dir beim Ausgraben helfen. Und«, fügte er rasch hinzu, »natürlich Mutter, die für alles zu gebrauchen ist. Gibt es irgendwelche Einwände, daß ich an dem Projekt weiterarbeite, das ich ihm vergangenen Jahr begonnen habe? Ich habe eine neue Methode erarbeitet, um Kopien zu erstellen, und die möchte ich unbedingt einmal testen.«
Das Projekt resultierte eigentlich schon aus viel früheren Jahren, aber unsere Freilegung von Tetisheris Grab hatte Ramses es erst im vergangenen Winter ermöglicht, daran zu arbeiten. Auch wenn Ramses ein überdurchschnittlich guter Exkavator und Forscher war, besaß er zudem eine außergewöhnliche Begabung für Sprachen, und ihnen galt demzufolge sein vorrangiges Interesse. Eine Bemerkung seines Vaters hatte ihn zu diesem letzten Projekt ermutigt – die Inschriften, die die Wände der Tempel und Bauwerke von Theben bedeckten, zu kopieren.
Jedes Jahr, jeden Monat (lautete Emersons aufgewühlter Kommentar) gingen mehr und mehr von diesen Texten unwiederbringlich verloren. Die gelegentlich wütenden Unwetter und die schleichende, unaufhaltsame Verwitterung durch Sonne und Sand ließen das Gestein im Laufe der Jahrhunderte zerfallen, und jetzt hatte der neue Staudamm bei Assuan den Wasserpegel so erhöht, daß die Monumente von unten her ausgewaschen wurden. Einige der Texte waren bereits von früheren Besuchern kopiert worden, aber Ramses verwendete eine Methode, die auf einer Kombination von Photographie und von Hand erstellter Kopien beruhte, von der er hoffte, daß sie
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