Amelia Peabody 09: Ein Rätsel für Ramses
begleitete. Emersons Gesicht hatte den zärtlichen Ausdruck angenommen, den er nur für Nefret hatte, und selbst Ramses legte sein Buch beiseite, um ihr zu lauschen.
Er hatte Notenlesen gelernt, weil sie für ihn eine »interessante logische Folgerung« darstellten, aber Nefret ließ nicht zu, daß er die Seiten für sie wendete, da er ihrer Meinung nach nicht aufpaßte. Diese ehrenvolle Aufgabe war an David gegangen, der neben ihr auf dem Klavierschemel hockte. Er konnte zwar keine Noten lesen, aber sein Blick hing an ihrem Gesicht, und er reagierte, sobald sie nickte.
»Wie schön sie ist«, sagte Cyrus leise. »Und ebenso gutherzig und ehrlich und liebenswürdig, schätze ich.«
»Und genauso intelligent, schätze ich«, bemerkte ich.
Cyrus’ angedeutetes melancholisches Lächeln verstärkte sich zu einem breiten Grinsen. »Sie haben recht, Mrs. Amelia, meine Liebe. Neid ist eine Eigenschaft, die ich zu vermeiden suche, aber ich gebe zu, daß ich im Augenblick etwas eifersüchtig auf Sie und Ihren Mann bin. Wenn ich diese anziehenden jungen Gesichter und diese wachen Augen sehe, wünschte ich mir, ich wäre nicht so ein armseliger verknöcherter Junggeselle. Sie wissen nicht zufällig eine nette Frau, nicht zu jung, aber … äh … immer noch jung genug, die mich nehmen würde?«
»Ermutigen Sie sie nicht«, brummte Emerson durch seinen Pfeifenrauch hindurch. »Frauen sind leidenschaftliche Kupplerinnen, Vandergelt, und sie ist eine der schlimmsten. Sie wird sie – wie lautet der treffende amerikanische Begriff – mit jemandem wie Mrs. Whitney-Jones unter die Haube bringen, bevor Sie auch nur einen Muckser von sich geben können.«
»Nun, Emerson, man kann nie wissen, vielleicht ist sie ja genau die richtige für mich. Wer ist sie denn?« Ich zögerte, allerdings nur kurz. Nefret versuchte gerade, David den Text zu »Annie Laurie« beizubringen, und sie amüsierten sich beide über seinen Versuch, einen schottischen Akzent zu imitieren. Ich hatte absolutes Vertrauen in Cyrus’ Diskretion und den größten Respekt für seinen bei Amerikanern ungewöhnlichen Grad an Intelligenz. (Und Cyrus’ Gegenwart hielt Emerson vielleicht von einem Zornesausbruch ab, wenn er Enids Geschichte hörte.)
Er ließ sich nicht zu einem Zornesausbruch hinreißen. Er schimpfte, fluchte und schnaufte, aber als ich trotz seiner Einwürfe meine Geschichte beendet hatte, sagte er nur resigniert: »Ich vermute, wir müssen irgend etwas tun. Ich kann es nicht ertragen, wenn Leute von Scharlatanen ausgenommen werden. Ich gehe einfach morgen hin, und dann werde ich die Frau schon loswerden.«
»Emerson, du bist ein hoffnungsloser Fall!« entfuhr es mir. »Was hast du vor? Willst du sie am Kragen packen, sie zum Zug schleifen und in ein Abteil einsperren?«
»Ich schätze, dafür ist die Situation zu kompliziert«, sagte Cyrus gedankenverloren. »Wir sollten die Dame loswerden, aber das würde unseren betroffenen Freund nicht kurieren. Scheint so, als wäre er weit davon entfernt, einem vernünftigen Gespräch zugänglich zu sein.«
»Ich werde selbstverständlich mit ihm reden«, sagte ich. »Aber er ist extrem hartnäckig und nicht besonders …«
Ich brach ab. Wir sprachen zwar leise, aber Ramses saß nicht weit weg von uns, und er hat Ohren wie ein Luchs. Mir war klar, daß er uns belauschte. Ich hatte noch nicht entschieden, ob ich die Kinder in Enids Problem einweihen wollte. Ramses war zwar schon informiert – wenn auch nicht durch mich –, trotzdem hatte ich nicht die Absicht, ihm die Angelegenheit zu überlassen.
»Ich werde mich einfach mit ihm bekanntmachen«, bot Cyrus an. »Gemeinsame Freunde und so weiter. Vielleicht kommt mir eine Idee, wenn ich den Burschen erst einmal getroffen habe.«
Ich dankte ihm. Und als der Abend endete, saßen wir alle um das Klavier versammelt und versuchten uns mit Gesang. Emerson hatte Cyrus zu Ehren den Text zu »Dixie« gelernt. Zu meiner Überraschung schien der das Lied überhaupt nicht zu kennen.
Weil es bereits so spät war, entschlossen sich die Jungen, im Haus zu übernachten. Nachdem Cyrus sich verabschiedet hatte und die Kinder in ihre Zimmer gegangen waren, ließ ich Emerson an seinem Schreibtisch zurück und ging allein auf die Terrasse. Der kalte, klare Windhauch war nach der Luft im Salon, die von Emersons Pfeifenrauch und Cyrus’ Zigarren erfüllt war, erfrischend; die Sterne, die nirgends so leuchten wie in Ägypten, schmückten den dunklen Himmel. Das einzig
Weitere Kostenlose Bücher