Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
Phase des Aufbruchs an, nicht unähnlich der Schlacht von Waterloo. Gewiß hatte Lia unsere Pläne gehörig durchkreuzt; als ich jedoch die zerzausten Locken und das blasse kleine Gesicht betrachtete, konnte ich ihr um nichts in der Welt böse sein. Friedlich schlafend hatte sie sich in Nefrets Bett zusammengerollt. David hatte sich einen Sessel nah an das Bett gerückt. Als ich bemerkte, wie erschöpft und mitgenommen er aussah, legte ich ihm beruhigend meine Hand auf die Schulter.
»Geh und iß etwas, David. Jetzt brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen, sie ist in Sicherheit, und Evelyn und Walter sind auf dem Weg hierher. Selim ist bei ihnen.
Emerson möchte, daß du ihn zum Bahnhof begleitest.« »Ja, natürlich. Du wirst … du wirst doch nicht mit ihr schimpfen, oder, Tante Amelia?«
»Ein wenig vielleicht«, sagte ich lächelnd. »Deine brü derliche Zuneigung ist rührend, David, aber mach dir keine Sorgen, ich bin viel zu erleichtert, um verärgert zu sein. Man muß ihren Mut, um nicht zu sagen ihr Durchsetzungsvermögen, bewundern.«
Nachdem ich mir ihre Gesichtsfarbe angesehen und ihren ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen gelauscht hatte, entschied ich, daß Ruhe das einzige war, was diesem Kind fehlte. Meine medizinische Erfahrung sagte mir, daß sie die Nacht durchschlief, wenn sie nicht gestört würde, deshalb ließ ich eine Lampe brennen und die Tür einen Spaltbreit offen und verließ das Zimmer auf der Suche nach den anderen. Der Salon war menschenleer bis auf Fatima – und Sir Edward, der ihr mit großem Interesse zuzuhören schien.
Als sie mich sah, brach sie ab und huschte hinaus, irgend etwas über Bettlaken und Handtücher und Waschschüsseln murmelnd.
»Sie hat mir von Ihrer Nichte erzählt«, sagte Sir Edward. »Ich freue mich darauf, Miss Emerson kennenzulernen. Sie scheint mir ebenso abenteuerlustig und selbständig wie die übrigen Damen des Hauses zu sein.« »Etwas zu selbständig für eine Siebzehnjährige«, entgegnete ich. »Trotzdem, Ende gut, alles gut. Wenn Sie mich bitte entschuldigen, ich muß sehen, daß das Gästezimmer in Ordnung gebracht wird.«
»Und ich werde meine Sachen aus meinem Zimmer schaffen.«
»Das hat wirklich keine Eile. Lia schläft heute nacht in Nefrets Zimmer, und vielleicht werden Walter und Evelyn sie morgen schon wieder mit zurück nach Kairo nehmen.«
»Es wäre ratsam für sie, das zu tun. Mrs. Emerson –«
Doch er wurde von Emerson unterbrochen, der meinen Namen brüllte, woraufhin mir entfuhr: »Gütiger Himmel! Er wird noch das Kind aufwecken. Verzeihen Sie, Sir Edward.«
Dieser Gedanke war nicht nur mir gekommen; als ich zu Nefrets Zimmer eilte, stieß ich auf David, der gerade herauskam. »Sie schläft noch«, berichtete er.
»Gut. Und jetzt mach dich auf den Weg, Emerson wird zunehmend ungeduldiger. Und vergiß nicht, Selim auszurichten, daß er nicht so hart mit Daoud umspringt.«
Emerson verlangte meine Unterstützung bei seiner Mantelsuche, der gut sichtbar an einem Haken hing. Ich half ihm hinein, strich die Aufschläge glatt und bat ihn, vorsichtig zu sein; und in der Tat glichen die ernsten Gesichter von Emerson und den Jungen eher denen einer Rettungsexpedition als Männern, die ihre lieben Freunde trafen. Ich schlug vor, daß Sir Edward sie begleiten könnte, doch Emerson schüttelte den Kopf.
»Er bleibt besser hier bei euch. Also, Peabody, denk darüber nach, was ich dir erklärt habe …«
Ich unterbrach seinen Vortrag und verabschiedete sie mit einem aufmunternden Lächeln. Vielleicht hatte der Zug wie so oft Verspätung; sie wollten jedenfalls pünktlich dort sein. Meine liebe Evelyn war bestimmt außer sich vor Sorge um ihr Kind. Schon allein deshalb mußte ihr so rasch wie möglich mitgeteilt werden, daß Lia sicher und wohlbehalten bei uns eingetroffen war.
In dieser Nacht war für uns alle an Schlaf nicht zu denken. Nefret hatte sich wieder zu Lia gesellt, aber ich war zu unruhig, um mich irgendwo niederzulassen. Ich bat Fatima, Kaffee zu kochen, und begleitete sie in die Küche. »Wie ich sehe, hast du dich mit Sir Edward angefreun det«, sagte ich beiläufig.
»Er ist sehr nett«, erwiderte Fatima. Sie griff nach dem Tablett. »Soll ich lieber nicht mit ihm reden, Sitt Hakim?« »Natürlich darfst du mit ihm reden. Worüber sprecht ihr denn?«
»Über vieles.« Ihre flinken Hände griffen nach Tassen und Untertellern, Zuckerdose und Löffeln. »Was ich mache, wie mein Leben früher war und wie es heute
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