Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
hatte, gestand er, daß er seine eingangs gemachte Ankündigung ebenfalls nicht ernst gemeint hatte. »Wir können uns noch ein bis zwei Tage Zeit lassen, bis wir mit der Arbeit anfangen. Bevor ich entscheide, wo ich anfange, möchte ich mir das Tal gern genauer ansehen. Ihr anderen könnt natürlich machen, wozu ihr Lust habt.«
Wenig überraschend beschlossen alle, daß ein Besuch im Tal genau das war, wozu sie Lust hatten. Wie gewohnt folgten wir dem Pfad, der durch die Klippen hinter Dair al-Bahri und über das Plateau führte. Emerson ging voraus, hielt mich an der Hand, und die Kinder folgten uns. Nefret war mit dem Kater beladen, der den Wunsch geäußert hatte, sie zu begleiten. Sie behandelte ihn wie ein Kätzchen, das er (mit gut und gerne sechs Kilogramm Gewicht) beileibe nicht war, und er nutzte sie schamlos aus. Das schwache, frühmorgendliche Sonnenlicht verlieh den Felsen und Abhängen schwarzblaue Silhouetten.
Schon in wenigen Stunden, wenn die Sonne hoch am Himmel stand, war der nackte Boden wie ausgebleicht. Glühendheiße Tage und bitterkalte Winternächte machten das Wüstenplateau für die meisten Menschen zum unwirtlichen, wenn nicht sogar entsetzlichen Aufenthaltsort. Für uns war es einer der aufregendsten Plätze auf Erden – und auf seine Weise einer der schönsten. Die einzigen Lebenszeichen waren die Fußspuren in dem weißen Sand des von uns beschrittenen Pfades: die Spuren nackter Füße sowie Stiefelspuren, Hufabdrücke von Eseln und Ziegen, die schwach abgebildeten Windungen der Schlangen. Einige der abenteuerlustigeren Touristen nahmen diesen Weg nach ihrem Besuch im Tal, allerdings aus der entgegengesetzten Richtung. Wir begegneten ausschließlich Ägyptern, die uns mit der ihrer Nationalität eigenen, überschwenglichen Freundlichkeit begrüßten. Ihre malerischen (wenn auch häufig zerrissenen) Gewänder rundeten das Bild ab. Genau wie mein Gemahl. Schnellen Schrittes, mit gestrafften Schultern und einem erwartungsfrohen Gesichtsausdruck, befand sich Emerson in seinem Element, und seine zwanglose Bekleidung betonte seine durchtrainierte Erscheinung weitaus besser als die formelle Garderobe, die die Konventionen der Zivilisation ihm abverlangten. Sein gebräuntes Gesicht und die nackten Arme, das schwarze, windzerzauste Haar hätten jedes Frauenherz höher schlagen lassen.
»Du hast dir einen Scherz erlaubt, nicht wahr, Emerson? Was die Bedeutung der Konservierung alter Dokumente anbelangt, stimme ich dir zu, doch deine Arbeit dient ebenfalls der Erhaltung. Wenn du Tetisheris Grab nicht entdeckt hättest, wären diese wunderbaren Kunstschätze gestohlen oder zerstört worden.«
Emerson sah mich erstaunt an. Dann formten sich seine wohlgeformten Lippen zu einem Lächeln. »Peabody, mein Liebling, es ist typisch für dich, daß du dir Gedanken machst, aber ich versichere dir, das ist vollkommen unnötig. Hast du jemals bemerkt, daß ich an fehlendem Selbstbewußtsein gelitten hätte?«
»Nein, niemals«, sagte ich, sein Lächeln erwidernd.
»Ich bin der glücklichste Mann auf der Welt, Peabody.«
»Ja, mein Schatz. Was machen da schon ein paar langweilige Gräber aus? Wir sind hier, wo wir am liebsten sind, und unsere Liebsten sind bei uns.« Ich warf einen Blick über meine Schulter.
»Welch ein wirklich schönes Trio sie abgeben, und wie freundlich sie miteinander umgehen! Ich habe immer schon gewußt, Emerson, daß sie sich prächtig entwickeln würden.«
Aus Manuskript H
Nefret bohrte erneut. »Ihr habt gesagt, daß wir es ihnen nach unserer Abreise aus Kairo erzählen würden. Dann habt ihr es aufgeschoben, bis wir Luxor erreichten. Worauf warten wir eigentlich? Ich stimme mit David überein, daß, wenn wir uns Ärger einhandeln wollen …«
»Da gibt es überhaupt kein Wenn und Aber«, sagte Ramses ungehalten.
»Dann sollten wir es hinter uns bringen! Dieses Gefühl der Vorahnung ist immer beunruhigender als die Realität.«
»Nicht immer.«
»Für mich schon. Als ich heute morgen in den Spiegel schaute, habe ich zwei neue Falten entdeckt! Ist dir nicht aufgefallen, wie blaß und mitgenommen ich aussehe?« Ramses blickte auf den rotgoldenen Schopf an seiner Seite. Sie war absolut unwiderstehlich, wenn sie in dieser Stimmung war, wie ein trotziges Kind daherstapfte und ihn mit einer Stimme ausschalt, in der verhaltene Fröh lichkeit mitschwang.
»Nein, das ist mir nicht aufgefallen«, sagte er. »Würde es dir auch nie. Ich weiß, worum es dir geht.
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