Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
mittlerweile jedoch zweifellos bewußt. Ich schloß daraus, daß die Kinder sich während ihres Kampfes und der sich daran anschließenden Flucht irgendwie verraten hatten. Yussuf Mahmud hatte eine letzte Chance erhalten, um seinen fatalen Irrtum wiedergutzumachen. Er hatte versagt – und den entsprechenden Preis dafür gezahlt.
Meine Erklärung war die einzig mögliche, doch Emerson tat sie mit einem nachdrücklichen »Papperlapapp, Peabody!« ab und ließ nicht einmal zu, daß ich sie zu Ende führte.
Selbstverständlich wußte ich, warum. Auch wenn er es nicht zugeben wollte, war Emerson immer noch wie besessen von Sethos. Das war schlichtweg lächerlich. Sethos würde sich niemals auf etwas so Geschmackloses wie einen Opferkult einlassen.
Ramses und Nefret hatten ihre Zimmer getauscht, und mir war klar, daß mein Sohn bitter enttäuscht war, als kein weiterer Überfall stattfand. Auch ich war enttäuscht, obgleich ich nicht damit gerechnet hatte, daß der Kult einen weiteren Mann riskierte. Unsere Gespräche mit den Antiquitätenhändlern und den Bewohnern von Gurneh waren zwar zeitaufwendig, aber unproduktiv. Keiner hatte Yussuf Mahmud gesehen; keiner gestand, Anhänger eines Opferkultes zu sein. Damit hatte ich in Wahrheit auch nicht gerechnet.
Die Woche zwischen Weihnachten und Neujahr war mit gesellschaftlichen Aktivitäten ausgefüllt, und wir erhielten mehrere Einladungen von Leuten, die Emerson als die »Dahabije-Dinnergesellschaft« bezeichnet – eine zunehmend unzutreffendere Bezeichnung, seit die Mehrheit der Betreffenden in Hotels logierte, insbesondere in dem neuen und eleganten Winter Palace. Gesellschaftlich gesehen waren sie ein schillernder Haufen, einige adlig, alle wohlhabend. Intellektuell betrachtet waren sie todsterbenslangweilig, deshalb widersetzte ich mich nicht, als Emerson darauf drängte, die meisten dieser Einladungen abzusagen. Allerdings bestand ich darauf, daß wir unseren archäologischen Freunden und alten Bekannten diese Höflichkeit erweisen mußten.
Zu den Letztgenannten zählte ich auch Mr. Davis, der an Bord seiner Dahabije in Luxor eingetroffen war. Emerson mochte diesen Mann verabscheuen, dennoch hatte er sich in den ägyptologischen Fachkreisen zur gefragten Persönlichkeit entwickelt und sich mir gegenüber stets zuvorkommend verhalten. Seine Cousine Mrs. Andrews, die ihn auf seinen Reisen immer begleitete, war ein liebenswertes. Geschöpf. (Ich möchte Emersons hartnäckige Spekulationen hinsichtlich der Beziehung zwischen ihr und Mr. Davis nicht wiederholen.)
Tatsächlich erhielten wir jedoch keine Einladung von Mr. Davis. Er und Mrs. Andrews (seine Cousine, wie ich Emerson immer wieder erklärte) zählten zu den begeisterten Anhängern der Dinnergesellschaft und verkehrten nicht nur mit renommierten Archäologen, sondern mit jedem Touristen, der auch nur den leisesten Anschein von gesellschaftlichem Status oder Rang erweckte. Anscheinend gehörten wir zu keiner der beiden Kategorien. Diese Tatsache beunruhigte mich keineswegs; sie erleichterte mich eher, da man nicht davon ausgehen konnte, daß sich Emerson in der Gesellschaft von Mr. Davis anständig benahm. Allerdings war ein Zusammentreffen unvermeidlich, und als wir eine Einladung zu einer besonders vornehmen Veranstaltung im Winter Palace Hotel erhielten, die der Manager zu Ehren mehrerer Angehöriger des britischen Adels ausrichtete, drängte ich Emerson nicht, den Rest der Familie zu begleiten. Mir war klar, daß Davis anwesend sein würde, da er den Adel vergötterte.
Zu meiner Überraschung und Verärgerung erbot sich Emerson freiwillig. Und nicht nur das, er schlüpfte ohne weitere Diskussion und ohne viel Murren in seine Abendgarderobe. Mich befiel eine starke Vorahnung.
Alle, die in Luxor Rang und Namen hatten, waren eingeladen. Obwohl wir verspätet eintrafen und der Saal bereits voller Menschen war, zogen wir sämtliche Blicke auf uns. Natürlich sah Emerson großartig aus. Über das Erscheinungsbild der Jungen kann ich mich ebenfalls nicht beklagen.
Es hatte sich als unmöglich erwiesen, alle Katzenhaare von Nefrets Kleid zu entfernen, aber auf dem plissierten, elfenbeinfarbenen Seidenchiffon fielen sie kaum auf. Die helle Farbe brachte ihre goldbraune Haut hervorragend zur Geltung – meiner Meinung nach sogar etwas zuviel. Zwischen unserer Abfahrt von zu Hause und unserer Hotelankunft mußte sie irgend etwas an ihrem Halsausschnitt verändert haben, denn er saß ein gutes Stück tiefer als
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