Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
dürfen. Ich lud ihn zum Tee für selbigen Nachmittag ein, denn ich wollte ihm gern helfen.
Nach meiner Rückkehr von der Ausgrabungsstätte beeilte ich mich, die Umgebung so angenehm wie möglich zu gestalten, denn ich hatte das Gefühl, daß er etwas Ablenkung brauchte. Wie üblich lag ich damit richtig. Ich gebe offen zu, daß mütterliche Instinkte nicht zu meinen nennenswerten Charakterzügen zählen, trotzdem wage ich zu behaupten, daß der Anblick des jungen Burschen jede Frau gerührt hätte. Sein anziehendes Gesichts wirkte eingefallen und seine Haut aschfahl. Er plumpste in einen Sessel und ließ seinen Kopf gegen die Kissen sinken.
»Sie sind so gütig zu mir, Mrs. Emerson. Wenn ich hier bin, fühle ich mich gleich besser. Sie haben aus diesem Haus ein Heim gemacht.«
»Zu seiner Schönheit haben Sie nicht unerheblich beigetragen, Geoffrey. Ich sage immer, ein Garten ist Labsal für die Seele. Wie Sie sehen, stehen Ihre Pflanzen in voller Blüte. Für diese besonders reizende Geste werde ich Ihnen immer dankbar sein. Was nehmen Sie in Ihren Tee?«
»Danke, nichts.« Er beugte sich vor, um seine Tasse in Empfang zu nehmen. Sein Blick musterte die Umgebung; ich nahm an, daß es nicht die blühenden Pflanzen und das rankende Efeu waren, die ihn interessierten.
»Nefret wird gleich hier sein«, bemerkte ich.
Eine leichte Röte huschte über seine bleichen Wangen. »Ihnen entgeht nur wenig, Mrs. Emerson. Obwohl das sicherlich nicht das Hauptanliegen meines Besuches war. Vielleicht sollte ich die Gelegenheit nutzen, um Ihnen unter vier Augen zu versichern, daß ich mich hinsichtlich Miss Forth niemals ungebührlich verhalten würde.«
Aufgrund seiner Förmlichkeit mußte ich meine Belustigung verbergen, und ich versicherte ihm , daß ich niemals einen solchen Verdacht gehegt hatte.
»Nicht, daß ich irgendeine Gelegenheit gehabt hätte«, erwiderte er mit einem betrübten Grinsen. »Ich mag sie sehr gern, Mrs. Emerson. Ihre Schönheit würde jeden Mann faszinieren, doch meine ihre gegenüber gehegten Gefühle entwickelten sich erst, nachdem ich ihren Geist und ihren Verstand kennen- und schätzengelernt hatte. Wenn ich wüßte, daß sie sie erwiderte, würde ich den Professor um Erlaubnis bitten, ihr den Hof machen zu dürfen.«
»Meinen Sie, daß sie Ihre Gefühle nicht erwidert?«
»Ich glaube, sie sieht in mir einen Freund. Auch diese Ehre weiß ich selbstverständlich zu schätzen. Sie kennt meine Gefühle. Ich habe ihr zu verstehen gegeben, daß ich ihr jederzeit zu Diensten stehe und daß ich mit Ausnahme einer positiven Einschätzung meiner Person nichts erwarten darf. Natürlich erhoffe ich mir mehr. Und diese Hoffnung werde ich niemals aufgeben, aber seien Sie trotzdem versichert, daß ich ihr meine Aufmerksamkeiten niemals aufzwingen werde.«
»In Nefrets Fall wäre das auch ein folgenschwerer Fehler«, erwiderte ich. »Ihre Gefühle und Ihr Verhalten sprechen für sich, Geoffrey.«
Bald darauf gesellte Nefret sich zu uns. Aus ihrer herzlichen, unbefangenen Begrüßung schloß ich, daß er (und ich) ihre Gefühle für ihn richtig einschätzten.
Wie bereits von mir vermutet, veranlaßte die Sorge um Jack Reynolds Geoffrey zu diesem Besuch.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gestand er, während er sich eine seiner blonden Locken aus der Stirn strich. »Es ist ganz natürlich, daß er um Maude trauert – sie standen sich sehr nahe. Trotzdem hatte ich gehofft, daß er mittlerweile etwas gefaßter wäre. Statt dessen wird er immer depressiver und verzweifelter. Mr. Fisher will Anfang nächster Woche mit der Arbeit beginnen, und Mr. Reisner kehrt noch vor Ende des Monats zurück, und er erwartet, daß wir bereits eine Menge geleistet haben – doch wenn Jack so weitermacht, wird er nicht in der Lage sein, auch nur irgendeine Arbeit in Angriff zu nehmen, geschweige denn, den von Mr. Reisner ausgearbeiteten Zeitplan einzuhalten.«
»Mr. Reisner ist doch kein Unmensch«, wandte ich ein. »Er wird sicherlich verstehen, daß Jack Zeit braucht, um den Verlust seiner Schwester zu verarbeiten.«
»Aber wieviel Zeit? Harte Arbeit ist die beste Medizin gegen den Kummer; ich bin sicher, Sie teilen meine Ansicht, Mrs. Emerson, und ich hätte erwartet, daß Jack ebenso denkt. Das paßt gar nicht zu ihm. Er war immer so charakterstark. Ich frage mich ständig …« Er brach ab.
»Ob ihn noch etwas anderes bedrückt?« beendete ich seinen Satz. »Ein tieferes und unsäglicheres Gefühl als schlichte
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