Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
Hut und meinen Schirm von einem nahe der Tür angebrachten Haken nahm. »Allein?« fügte er noch hinzu, und seine Augen wurden noch größer, als niemand Anstalten machte, mich zu begleiten.
»Gewiß. Ich bleibe nicht lange.«
Solche Dinge kläre ich am liebsten, sobald ich darauf aufmerksam werde, denn jeder Aufschub ist sinnlos. In diesem Fall war eine sofortige Reaktion ratsam; es war noch früh und Jack sicherlich noch nicht so betrunken, daß er unzurechnungsfähig war.
Um das Risiko einer Abweisung zu umgehen, gab ich keine Visitenkarte ab, sondern eilte zielstrebig in den Salon, wo der Hausherr sich nach Aussage des Bediensteten aufhielt.
Der Anblick des früher hellen und ansprechenden Raums bestätigte Geoffreys pessimistische Einschätzung. Die Dame des Hauses fehlte, und die arme alte Tante (deren Namen ich mir nie merken konnte) hatte die Tragödie so mitgenommen, daß Jack sie heimgeschickt hatte. Naturgemäß verrichten Bedienstete gewöhnlich nur das, was man ihnen aufträgt, und augenscheinlich verlangte Jack nicht viel. Feiner Sandstaub bedeckte sämtliche Möbelstücke, die Böden waren seit Tagen nicht mehr gewischt worden, und ein seltsam unangenehmer Geruch hing in der Luft. Jack trug noch immer seine Arbeitsgarderobe. Er kauerte in einem Sessel, hatte seine schmutzigen Stiefel auf den Tisch gelegt, ein Glas in der Hand und eine Flasche neben seinen Stiefeln stehen. Als er mich erblickte, sprang er so abrupt auf, daß die Flasche umstürzte.
»Das ist schon ein guter Anfang«, bemerkte ich, während ich die Flasche an mich nahm. Auf dem Boden bildete sich eine übelriechende Pfütze, trotzdem befand sich noch eine Menge in der Flasche. Ich trug sie zum Fenster und goß den Rest ins Freie.
Ich möchte den werten Leser nicht mit einer detaillierten Beschreibung meiner sich daran anschließenden Handlungen langweilen. Es dauerte nicht lange, bis ich – den protestierenden und Ausflüchte suchenden Jack im Schlepptau – mehrere weitere Flaschen im Haus aufgespürt hatte. Ich nahm nicht an, daß ich alle gefunden hatte, und er konnte sich natürlich mit Leichtigkeit Nachschub besorgen; es war die dramatische Geste, auf die ich setzte. Nachdem ich seine Aufmerksamkeit auf diese Weise sichergestellt hatte, schob ich ihn in der Eingangshalle in einen Sessel und redete sanft, aber bestimmt auf ihn ein, wie es seine eigene Mutter vielleicht auch getan hätte. Schließlich brach er in Tränen aus, senkte den Kopf und schlug die Hände vor sein Gesicht. Es gelang mir, ihm ermutigend auf den Rücken zu klopfen, dann wandte ich mich zum Gehen. Während ich noch überlegte, ob ich den Versuch wagen sollte, seine Waffen ebenso wie den Whiskey zu konfiszieren, tastete ich nach dem Griff des Waffenschranks und zog daran. Er war verschlossen. Als Jack aufblickte, meinte ich sachlich: »Ich bin froh, daß Sie Ihre gefährlichen Waffen unter Verschluß halten, Jack. Sie lassen den Schlüssel doch nirgends herumliegen, hoffe ich?«
»Nein. Nein, Ma’am. Ich bin übervorsichtig geworden, nachdem eine von ihnen gestohlen wurde. Es handelte sich um einen der Revolver, einen 45er –«
»Dann ist es ja gut«, erwiderte ich rasch, da ich mir keinen Vortrag über Waffen anhören wollte. Eigentlich hatte ich in Erfahrung bringen wollen, wo er den Schlüssel aufbewahrte, doch das erwähnte er mit keinem Wort und keiner Andeutung.
»Bis auf weiteres dann also Lebwohl«, fuhr ich fort. »Ich vertraue auf Ihr Versprechen zur Läuterung, Jack. Sie sind ein zu wertvoller Mensch, als daß Sie solchen Schwächen anheimfallen dürfen. Sollten Sie erneut in Versuchung geraten, denken Sie an die himmlischen Wesen, die Sie ständig beobachten; darüber hinaus können Sie mich jederzeit aufsuchen, wenn Sie den Trost eines Erdenbewohners brauchen.«
Oder ähnlich effektvolle Worte.
Ich war mir recht sicher, daß ich Jack die Unhaltbarkeit seines Verdachts gegenüber Ramses klargemacht hatte. Bei anderen war das nicht so leicht der Fall. Geschichten, die sich um Maudes Beziehungen zu zahllosen jungen Männern rankten, machten die Runde. Allerdings wurde der Name meines Sohnes in diesem Zusammenhang zweifellos am häufigsten erwähnt. Offenbar hatte das bedauernswerte Mädchen kein Geheimnis aus ihrer Schwärmerei gemacht. Wie so typisch für junge Frauen, vertraute sie ihre Empfindungen ihren Freundinnen an, und diese wiederum kolportieren sie ihren Brüdern, Verlobten und Müttern.
Nichts von alledem erfuhr ich aus erster
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